Literarische Rundschau.
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dings kaum hinausgekommen; ihr Beobachtungsfeld war noch nicht weit genug. Die Masse mit ihren Gefühlen war ihr fremd; sie kannte vorläufig bloß die „Auch Einer "-Gestalten und die wohlhabenden Gedanken-Pessimisten. Und doch: welche Aussicht für das Höchste, wenn dieser kühle Beobachterblick und dieses warme Herz wirklich ihren Gesichtskreis hätten erweitern können! Oder war dieses junge Mädchen von vierundzwanzig Jahren schon zu früh reis, brach diese Entwickelung vielleicht doch im Höhepunkt ab, handelte es sich dennoch mehr um eine Turgenjew'sche Figur, als um die eigentliche Vollenderin des Dichters? Gewiß wäre nun der schwerste Weg gekommen, wenn es weiter gehen sollte: Vieles, besonders in den socialen Dingen, was noch Wort war, mußte Bild werden; die Weltanschauung der Turgenjew und Schopenhauer mußte verblassen vor dem Wirklichen, vielleicht um dann später noch vertiefter wieder gewonnen zu werden. Wenn man das Märchen am Ende des Buches liest, glaubt mau doch wieder, daß das Alles hätte werden können. Umsonst!
Hopsen ist der Erzähler am Weintisch, der uns mit seinen und gewählten Sachen unterhält, aber dafür sorgt, daß wir uns die Freude am Wein nicht verderben lassen. Margarethe von Bülow rüttelt an der Weltordnung, rasselt mit den Ketten, ohne doch noch das erlösende Wort zu finden.
Ein Schritt über sie hinaus würde mitten hinein in die echte sociale Novelle führen. Aber die Proben dieser Art sind noch verschwindend gering in der Hochfluth von Novellen, die jeder Tag bringt. Statt dessen drängen Neigung und Wohl auch Gefühl für die eigene Krastschranke immer wieder zahlreiche Kämpfer hinüber ins Gebiet des Historischen. Dort ist von Pionierarbeit kaum die Rede: wo drüben höchstens ein paar wilde Rainblumen dem Brachfelde entsproßten, grünt hier ein alter, seit Jahrhunderten gepflegter herrschaftlicher Park. Wo Isolde Kurz in ihren „Florentiner Novellen" den Nagel aus den Kops trifft, da macht sie nur wieder gut, was Andere vor ihr schon sehr gut gemacht hatten. Und wo sie stolpert, da trägt gleichsam jeder Stein bereits ein Zeichen, das prüfende Aesthetik längst daraus geschrieben, ein Warnungszeichen vor den unter Blüthen versteckten Gefahren, die dem Dichter drohen, der seine zarten Schmetterlingsflügel an das graue Gewand der Wissenschaft heftet. Die „Vermählung der Todten" zeigt die Schäden wie die Vorzüge der historischen Novelle im Allgemeinen sehr deutlich. Die Einführung ermüdet, weil endlose Erklärungen über geschichtliche Dinge nöthig sind, der Stil ist etwas gezwungen. Ueber diese bitteren Beigaben ist noch nie eine Novelle der genannten Art hinweggekommen, und nur durch eine Concession wird die historische Prosadichtung theoretisch möglich. Nachher folgen hohe und nachhaltige Schönheiten, die entschädigen. Wenn ich noch ein Bedenken hervorhebe, so trifft auch das mehr die conventionelle Methode als die Individualität unserer hochbegabten Dichterin. Auf der einen Seite haben wir eine echte Renaissance-Geschichte, Greuel, die doch mit der Harmlosigkeit des Chronikstils berichtet werden, unermeßliche Schmerzen, die eine Liebesstunde aufwiegt, Menschen mit sechs Messerstichen im Leibe, die ruhig weiter leben, Pestschauer, die Liebende Vereinen, Scheintodte, die aus dem Grabe auserstehen, völlige Rechtlosigkeit hier, dort salomonische Weisheit eines Magistrats, die eine fröhliche Lösung schafft. Diese Dinge sind nicht unwahr, sie entspringen echt der Zeit. Aber die Dichterin fühlt, daß uns heute das alles zur rechten Novelle nicht genügt. Sie will vertiefen. Einmal gelingt ihr das gut, in der Rede der alten Dame auf Seite 50 über Frauenloos in solch wilden Tagen. Aber es bleibt bei dem Moment. Statt des tragischen Ausgangs kommt der Schluß, der uns romantisch erscheint, obwohl es in der Zeit selbst dutzendfach so hergegangen sein mag. Die zweite Novelle, „dieHumanisten", ist im geistigen Gehalt nicht tief genug ausgebaut; sie spielt mit der Frage, ohne sie zu fassen. Mächtige dramatische Kraft erfüllt dafür den „heiligen Sebastian." Und doch: warum zersplittert sich so viel Können in Novellen, — warum wird aus alledem nicht einmal ein großer, gestaltenreicher Renaissance-Roman? Diese Novellensträuße — um dieses als Schlußwort noch an Alle zu richten — haben überhaupt ihre Schwäche. Unwillkürlich liest man den