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Deutsche Rundschau.
ganzen Band hintereinander durch, Bild schiebt sich aus Bild, das Beste des Eindrucks leidet. Je mehr Stücke der Band saßt, desto schlimmer. Schließlich sausen die Novellen am Leser vorbei wie ein Eisenbahnzug, iu dessen Fenstern man kaum hier und da ein Gesicht erkennt. Und wenn man nun denkt, wie Zug um Zug rollt, täglich, säst stündlich! Ist es ein Wunder, wenn da die Kritik summarisch wird, wenn sie in so vielen unserer Blätter bloß noch Titelregister ist?
Wilhelm Bölsche.
Titus Ullrich.
Dichtungen. Von Titus Ullrich. Berlin, R. von Decker's Verlag. G. Schenck, Königl. Hofbuchhändler. 1890.
Als zu Beginn der fünfziger Jahre Gottfried Keller in Berlin lebte, gehörte Titus Ullrich zu den Wenigen, mit denen Jener in freundschaftlichem Verkehre stand. Keller, welcher damals, im dritten Stock eines Hauses in der Mohrenstraße, an seinem „Grünen Heinrich" schrieb, war ein Unbekannter, während Ullrich, namentlich von der Jugend jener Zeit, sehr verehrt wurde. Nicht nur, weil er als Kritiker der „National-Zeitung" einen maßgebenden, in hohem Grade fördernden Einfluß übte, sondern vielmehr noch als Dichter. Seine beiden Epen waren dicht vor der Revolution erschienen: „Das hohe Lied" 1845, „Victor" 1848, und wenngleich sie selbst heute beinahe vergessen sind, so darf doch nicht vergessen werden, welch' starken Eindruck aus die damalige Generation sie gemacht haben. „In gedankenreichen, wohllautenden Versen athmeten hier Wunsch und Sehnsucht nach der idealischen Freiheit," sagt von ihnen, in seinen „Erinnerungen", Karl FrenzelH, jetzt auch schon seit fast einem Menschenalter der Nachfolger Ullrich's bei der National-Zeitung. „Aus den Irrungen und Trübungen des Lebens, aus dem Labyrinth der Philosophie, aus der Verzweiflung des Herzens erhob sich die Hoffnung aus die Zukunft, das unverjährbare und unverlierbare Recht des Menschen aus Freiheit und Selbstbestimmung als leuchtendes Gestirn:
Hoch, flattre hoch, mein Banner! Sei's einem Heer zur Schlacht,
Sei's einem Pilgerzuge durchs letzte Grau der Nacht!
Ins heil'ge Land! Öb fern auch, fern hinter Berg und Thal.
Dort glänzt der großen Zukunft alleiniges Ideal!
„Gewiß", so fährt Frenzel fort, „es gibt nichts Unwirklicheres als dieses ,heilige Landff als diese Begeisterung ins Blaue hinein, es ist die Wunderblume, die Heinrich von Osterdingen suchte, hier mit dem Namen Freiheit getauft; aber wir Achtundvierziger sind aus dieser für Real-Politiker und Real-Dichter gegenstandslosen Schwärmerei und Sehnsucht hervorgegangen —" und die Reäl-Politiker wenigstens sind ehrlich genug, anzuerkennen, wie viel sie der schönen Begeisterung, dem jugendlichen Aufwallen jener Träumer schulden. Was die Real-Dichter, zumal neuesten Datums betrifft, so sind wir dessen nicht ganz so sicher. Doch wir zweifeln, daß aus ihrer trüben Weltanschauung jemals Etwas hervorgehen werde, wie das stolze Werk, an welchem wir, die wir uns zu der Jugend von Achtundvierzig rechnen, Jeder an seinem Theil, ein wenig mitgearbeitet haben. Freilich, in andren Formen und aus andren Wegen, als den lustigen der Dichtung, hat „der großen Zukunft alleiniges Ideal" sich erfüllt, und unter dem blutigen Schimmer und Flammenschein dreier welterschütternden Kriege, nimmt das „heilige Land" sich etwas anders aus, als unter dem Morgenroth der Poesie. Sollten wir darum aber pietätlos genug sein, um nicht immer in Dankbarkeit Derer zu gedenken, die im Volksgemüth den Glauben an die Zukunft nährten und die Hoffnung aufrecht erhielten, da das Morgen
Z Erinnerungen und Strömungen. Gesammelte Werke, Bd. I, S. 20.