Literarische Rundschau.
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so freudlos und grau schien wie das Heute? Dies war das Amt und der Beruf der vormärzlicheu Dichter, deren Zeit jetzt Vergangenheit, deren Zukunft jetzt Gegenwart geworden ist; und zu diesen Dichtern gehört Titus Ullrich.
Er verstummte, nachdem er sein Lied gesungen, und seit er, 1862, seine Redactionsstellung an der „National-Zeitung" mit der eines literarischen Raths bei der General-Intendanz der Königlichen Schauspiele vertauscht hatte, tauchte sein Name gänzlich unter in einer Art von Beschäftigung, welche, höchst verdienstlich nach innen, nach außen hin sich wenig bemerklich macht. Doch einem jener Ströme gleich, die weite Strecken unterirdisch fortsließen, um plötzlich wieder ans Tageslicht hervorzubrechen , tritt auch Titus Ullrich nach langer Zeit — so lange, daß sie fast traumhaft uns dünkt — noch einmal als Dichter hervor mit einem Bändchen, welches auf kaum mehr als zweihundert Seiten den Ertrag der vielen Jahre gibt. Selten mag das Präcept des Quintus Horatius Flaccus so buchstäblich, über und über befolgt worden fein, wie hier; selten aber auch ist uns eine poetische Gabe geboten worden, die mit voller Reife noch so viel substantielle Kraft und zugleich Süße des Geschmacks verbunden hätte.
Wir sind gegen die Mängel Ullrich'scher Dichtung nicht blind; sie sind hier wesentlich noch dieselben, wie vierzig Jahre früher in seinen beiden Epen: Mängel der Form, welche den Dichter uns sozusagen im Kamps und Ringen mit derselben zeigen. Neben den größten Schönheiten des Verses begegnen plötzlich solche Stellen, in welchen ein Hiatus, ein unechter Reim, ein ungelenker Rhythmus stören — unbegreiflich bei solcher Ausbildung des Gefühls und Gehörs, wenn diese Spuren unvollkommen überwundener Schwierigkeiten nicht vielmehr darauf hindeuteten, daß der Dichter lieber einen formalen Rest lassen, als auf eine Nuance des Gedankens verzichten wollte. Das, was man „schöne Verse" nennt, zu machen „in einer gebildeten Sprache, die für uns dichtet und denkt," ist ebenso leicht, als es schwer ist, eigne Gedanken zu haben. Auf die Wiedergabe solchen Gedankeninhalts kam es unsrem Dichter vor Allem an, und man findet daher die Feinheiten seiner Kunst weniger in den äußerlichen Kennzeichen und Merkmalen des Versbaues, als in der geistigen Gewalt über die Sprache. Das Wort, das er braucht, ist niemals allgemein gehalten, sondern eignet nur dem vorliegenden Fall, den es dann aber in seinen leisesten Unterschieden erschöpft: das abendliche Flimmern aus dem Strom „übergittert" die Wogen mit goldnem Netz; am Nachthimmel „entknospet" sich Stern um Stern; am schwindelnden Alpensteg ist „angepflockt" ein magrer Schößling,
wie ein schwaches Ried Die Grenze zwischen Tod nnd Leben zieht.
Mit dieser Plastik des Ausdrucks verbindet sich da, wo der Dichter am besten ist, ein Wohllaut, der die Regungen des Herzens mit denen der Natur in einen geheimnißvollen Einklang bringt — jene Melodie,
Nach der begierig weicher Westhauch hascht,
Um sie dem Blätterlispeln sanft zu mischen.
In dem Nachtstück „Adriana" vernehmen wir dies Zusammenklingen und Zufam- menstimmen, wie von jeder irdischen Schwere gelöst:
Solche Nacht — in Mondespracht —
In dem magischen Glanze
Dieser Stundenfrist verwandelt wundergleich Erd' und Himmel: rings die ganze Weite Welt ein Geisterreich!
Sehnsüchtig durch weite, dunkle Fernen hallt der Ruf: „Adriana", der eine Todte heraufführt und mit ihr den seligen Augenblick ersten Findens: Alles wird lebendig; durch die Schatten
zittert's, flittert's, sprühen Funken, leuchtet zahllos irres Käferglühen.
Schwellend — schwindend weht die laue Luft Weckt und neckt die Blumen —