Literarische Notizen.
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durch gelähmt werden müßte, daß es den Gegner als unüberwindlich ansehen lernte; Preußen hat große Tage gehabt, aber es hat auch Jena und Olmütz erlebt, und nichts sagt, daß es nun nie mehr fallen wird. Einen Particularis- mus im alten Sinne gibt es in Deutschland allerdings nicht mehr; selbst die Socialisten haben am 28. November 1888 durch den Mund Liebknecht's erklärt, daß sie eine Zerstückelung des gemeinsamen Vaterlandes durch das Ausland nicht zulassen würden; deutsch sind die Katholiken Bayerns, deutsch die Conservativen Preußens. Wohl aber gibt es noch einen Regionalismus, welcher sich im Parteiwesen des Reichstags deutlich offenbart, und es ist deshalb nicht ausgeschlossen, daß die 1866 besiegten Landschaften die preußische Hegemonie noch eines Tages abschütteln und die Reichsverfassung, welche Preußen zu viel Macht einräumt, abändern werden. Die Franzosen dürfen nur ja diese Aussichten nicht durch einen täppischen Angriff stören, wie 1870; ruft man Deutschland an seine Grenzen, so festigt man das von Bismarck errichtete Gebäude- Sind aber einmal die Deutschen so weit, mit Preußen sich auseinanderzusetzen, dann werden sie ihm auch vorwerfen, daß es durch die Annexion von Elsaß- Lothringen das eiserne Regiment verschuldet hat, welches auf dem Reiche lastet und es erschöpft. Es besteht also alle Hoffnung, daß das Werk Wilhelm's I. und Bismarck's nicht von ewiger Dauer ist, daß der Wind sich drehen und Frankreich seine Rechnung wieder finden wird: nur warten und nicht dreinsahren! — Wir haben diese Sätze aus dem Buche Lebon's zusammengestellt, um zu zeigen, wie wenig auch ein gescheiter Franzose uns begreift. Lebon ist gewiß von der besseren Sorte, und seine Beobachtungen sind nicht ohne solide Studien entworfen: aber es will ihm nicht einleuchten, daß das Deutsche Reich, so wie es ist, wirklich durch den Willen aller seiner Stämme fest stehen soll wie ein roester cke strou^e. So muß denn auch Preußen die Annexion von Elsaß-Lothringen veranlaßt haben, während sie doch das eigenste Werk des deutschen Südens ist, dem Preußen nur entgegenkam, als es um seiner Sicherbeit willen und' zur Sühne der ihm 1648 und 1681 angethanen Schmach die Westmark des Reiches zurückforderte. Wie lange wird es dauern, bis die Franzosen dies verstehen? Wir fürchten, das jetzige Geschlecht erlebt es nicht mehr; um so wichtiger ist es für uns, zu wissen, wohin die Hoffnungen des Volkes gehen, das uns unsere nationale Existenz immer noch nicht verzeiht.
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st,evv-Lrustst karm, listruirie stluestette.
1890.
Der Verfasser hat sich die Aufgabe gesetzt, zu ermitteln, welchen Antheil die Philosophen, Kritiker und Dichter an dem Umschwung genommen haben, der sich in Deutschland seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. vollzog. Haben sie zum Erwachen des nationalen Bewußtseins beigetragen, und wenn ja, mit welchen Mitteln und in welchem Maße?
Haben sie die nationale Einheit von Anfang an ersehnt, oder haben sie dieselbe lange Zeit vorbereitet, ohne daran zu denken? Wie haben sich während dieser anderthalb Jahrhunderte die Empfindungen, die Ideen und Lehren aus politischem Gebiete verändert? Indem Levy- Bruhl auf diese Fragen eine Antwort zu finden sucht, unterscheidet er drei Entwicklungsstufen des nationalen Gefühls. Ums Jahr 1700 ist dasselbe infolge des dreißigjährigen Krieges fast ganz erstickt; die religiösen Gegensätze haben es überwuchert; das Reich ist ein geographischer Begriff, so daß Gemeinwesen von sechzehnhundert Seelen wie Bopfingen oder von tausend wie Buchau am Federsee eine nahezu vollständige Autonomie besitzen konnten und der schwäbische Kreis allein 97 Souveräne zählt, daß in ganz Deutschland achtzig Staaten von nicht mehr als zwölf Quadratmeilen Flächeninhalt bestehen. In den Geistern herrscht das Weltbürgerthum über das nationale Empfinden, welches von den Geistern sogar als etwas Beschränktes angesehen wird. Aber seltsam: zur gleichen Zeit kämpfen diese Geister mit aller Thatkraft gegen die literarische Fremdherrschaft und bringen dieselbe am Ende zu Fall. So eröffnen sie ihrem Volke das Bewußtsein seines Genius und seiner Ursprünglichkeit; sie flößen ihm Achtung ein vor seiner Sprache, seinem Charakter, seinem sittlichen Kern, und es entsteht ein nationales Empfinden, welches sich noch ohne Mühe mit dem Weltbürgerthum des Jahrhunderts verträgt. Auf der zweiten Stufe aber muß dieses Volk das französische Joch auf sich nehmen; es erlebt den Zusammenbruch des alten Reiches, die De- müthigung von Jena; da gehen der Denker Fichte und der Staatsmann Stein Hand in Hand; das Vaterlandsgefühl nimmt Gestalt an und verdichtet sich zum Gedanken des deutschen Vaterlandes. Endlich, seit 1815, beginnt die dritte Periode: man gelangt zur Ueberzeugung, daß Deutschland, um in Wahrheit das gemeinsame Vaterland zu werden, nicht bloß eine Nation sein darf, sondern ein Staat, mächtig, furchtbar und gefürchtet, fähig, seine Interessen wirksam zu vertheidigen und die Stelle in Europa zu fordern, welche ihm gebührt. So setzt sich schließlich ein protestantisches Deutsches Reich an die Stelle des heiligen Römischen Reichs deutscher Nation, welches am Anfang des Jahrhunderts zusammengebrochen war, und in diesem Sinne ist ein neues Deutschland entstanden. Das sind die Grundlinien des Buches von Levy-Bruhl, dem man das Zeugniß schuldig ist, daß er ohne Sympathie für Preußen, aber nicht ohne wohlthuende Sympathie für deutsches Wesen und mit historischem Gerechtigkeitsgefühl seine Aufgabe gelöst hat. Den Mangel seiner Betrachtung, daß sie nicht mit Luther und der Reformation beginnt, hat er selbst empfunden und offen eingestanden; so nimmt man ohne Tadel, was er eben bietet.
llix - liuitieme sieele. kur stiinile kuZuet. ststuäes 1itt6ruir68. kaum, H. keeene et Ouclin. 1890.
Das vorliegende Werk sucht den Geist des achtzehnten Jahrhunderts durch eine Charakle-