374
hatte, daß er die Gewißheit ihrer Schuld nicht überleben konnte ...
Da klang die Stimme der Frau Gerold. Sie sprach
zwischen Tränen,, das feine Tuch noch vor den Augen. Und ihre Stimme Zitterte erregt, erschüttert.
„Furchtbar ist es für mich . . . Frau Bang . . . ganz
unsagbar furchtbar . . . Sie wissen ja nicht, wie es kam . . .
der arme Mann ..." Ein neues Schluchzen ging durch ihren Körper.
Frau Bang aber legte ihr leise die Hand auf die
Schulter.
„Ich weiß, Frau Gerold . . . nein, Sie sollen nicht darüber sprechen — Georg hat mir's erzählt. Sie sollen ruhig werden . . ."
Ein leises Zucken ging über ihre Schultern, und ihre
Haltung straffte sich. Sie gab die Augen frei und sah mit raschem Blick zu Frau Marie Bang empor. Der aber war es, als hätte sie aus diesem Blick ein Strahl von scheu aufblihender Angst getroffen. Doch das war nur einen Herzschlag lang. Dann irrten Frau Gerolds Augen unruhig im Zimmer hin und her, während sie rasch und in jähen Sätzen sprach. Ein Zug von herber Verschlossenheit lag nun auf ihrem blassen Gesicht und ein Heller fremder Klang in ihrer zitternden Stimme.
„Georg hat Ihnen erzählt . . .? Ja, es war schrecklich. Er spielte gerade Harmonium — die Kinder sangen. Die Tür zum Eßzimmer war offen — wie ja immer — da saß ich mit einen: Bekannten — Herrn Crispi — wir sprachen vom Theater. Da muß es ihn — Sie wissen ja, daß er herzleidend war — da muß es ihn plötzlich ergriffen haben — es muß ihm auf einmal schlecht geworden sein. Sein Spiel bricht plötzlich ab — und ich, ich höre das und sage noch: .Um Gottes Willenll und springe aus und will nach der Tür . . . Und da, Frau Bang — bis Zu der Tür ist er noch gekommen — am Vorhang hat er sich dann halten wollen — und ist zusammengesunken . . . tot . . .!"
Frau Bang hatte die Hand, die sie vorher leise und tröstend auf die Schulter der Frau Gerold gelegt hatte, schwer sinken lassen. Die Worte drangen wie aus weiter Ferne an ihr Ohr, und unter jedem neuen Laute dieser Stimme, unter dem Sinne dieser Rede krumpfte sich ihr das Herz, das sich schon mitleidsvoll für diese Frau erschlossen hatte, aufs neue fest zusammen.
Und als Frau Gerold schwieg, nickte Frau Bang nur sinnend mit dem Kopfe. Sie fühlte es, es lag gleich einer Kluft zwischen der schönen Frau und ihr, sie ahnte nun, daß auch sie, gleich dem Toten, die Brücke über diese Kluft nie würde schlagen können. Sie sprachen nicht die gleiche Sprache, wie wollten sie sich je verstehen können!
So war es eine ganze Weile still im Zimmer. Mechanisch strich Frau Bang über das Haar der kleinen Sephi. Erst als das Kind sich ein wenig bewegte, schüttelte sie ihr Sinnen von sich.
„Soll ich also das Kind heut' und an den nächsten Tagen für ein paar Stunden zu mir nehmen? Ich glaube, es ist besser, wenn ihm die Eindrücke, die alles das Traurige noch bringen muß, erspart bleiben."
Frau Gerold dankte und gab ihre Zustimmung.
Und da in diesem Augenblick das Mädchen eintrat und ihr sagte, daß ein Vertreter der Bestattungsgesellschaft sie zu sprachen wünschte, so suchte Frau Marie Bang, nach kurzem Abschied von der Mutter Sephis, selber das Mäntelchen und die Mütze des Kindes heraus, zog die Kleine an und ging mit ihr hinunter, durch die Straßen und über den stillen Hof mit seinen einsamen Kastanienbäumen, die Treppe hinauf in die kleine Wohnung.
Da sprach sie mit dem Kinde und blieb bei ihm, bis Georg aus der Schule kam. Dann aber blieben diese beiden Zusammen bis zum Abend. Sie sprachen von Herrn Gerold und wiederholten sich Erlebnisse, die sie zusammen mit ihm
gehabt hatten. Oft waren ihre Augen feucht dabei. Dann wieder saßen sie lange schweigend Hand in Hand.
„Ob der Papa jetzt schon beim Hans ist?" fragte die Sephi einmal.
Und Georg nickte und dachte jenes Traumes, den Herr Gerold ihm erzählt, und der Worte, die das Traumbild Hansens da gesprochen hatte: „Bald — bald werden wir wieder ganz zusammen sein."
Später aber, als es dämmerte, da war es seltsam.
Die Mutter war gegangen, den Kranz zu holen, den sie bestellt hatte. Sie wollte ihn mitnehmen, wenn sie Sephi dann nach Hause brachte.
Die Kinder waren allein. Sie saßen zu beiden Seiten des Tisches und sahen auf die Bücher nieder, die einstmals Hans gehört hatten. Dann streckte Sephi, die müde war von: vielen Weinen und müde war von der langen Nacht, in der sie so viele Stunden wach gelegen und so wenig nur geschlafen hatte, die Ärmchen vor sich hin auf den Tisch und legte den Kopf darauf. Georg ergriff die eine von den beiden kleinen Händen, und diese schloß sich fest um seine Hand. So sah die Sephi eine ganze Weile hinauf zu ihrem Freund.
Dann schloß sie die Augen. Ihr Atem wurde gleichmäßiger, ruhiger, sie schlief ein.
Georg saß still und wagte es nicht, sich zu rühren. Er hielt die Zarten Finger in den seinen und sah auf das blonde Köpfchen, das in: Dämmerlicht erschimmerte. Durch seine Seele aber zogen die Gedanken, die ihm Herr Gerold gleich einem Vermächtnis in jener weihevollen Stunde erschlossen hatte. Er sah vor sich die gütigen, schmerzvollen Augen und hörte wieder diese liebe Stimme, die leis verschleiert und doch eindringlich die Worte sprach: „Ich glaube, daß ich bei euch bleiben werde, in Sephi und in dir — auch wenn ich nicht mehr lebend auf der Erde bin." — Wie ein Gelöbnis, inbrünstig und heiß, entrang es sich da seiner jungen Seele. Ein Drang, sich hinzugeben an ein Ziel, erfüllte ihn. Er Hütte sein Gefühl nicht in Worte fassen, nicht zu Gedanken formen können. Aber er wußte, daß alles das, was in ihm wallte, ein heiliges Versprechen an den Toten war. Sein Leben sollte all der Liebe würdig werden, die jener ihm gegeben hatte! — —
Auch noch mn zweiten und am dritten Tage nach dein Tode des Herrn Gerold war Sephi stundenlang bei Georg und Frau Bang.
Am Nachmittag des dritten Tages aber schritt das Kind im schwarzen Trauerkleidchen an der Hand seiner von dichten Schleiern ganz verhüllten Mama durch die verschneiten Gräber- straßen des Friedhofes hinter dem blumenübersüten Sarge seines Vaters.
Schwankend auf den Schultern der ernsten, dunkel gekleideten Männer, zog der Sarg, der das Sterbliche von Heinrich Gerolds barg, gleich einen: mahnenden Symbol, langsam und feierlich dem langen Zug der Menschen voran, der ihm folgte.
Und da schritten sie alle, die in den letzten Jahren den: Heimgegangenen im Leben nahegestanden hatten. Seine und seiner Frau Verwandten, die Freunde und Bekannten, seine Kollegen aus der Bank, und da war kann: ein Gesicht, auf dem nicht wahrhaft tiefes Leid geschrieben stand.
Eng an seine Mutter gedrückt, ging auch Georg in diesem Zug. Er war bleich und Zitterte. Seine Augen tränten immer wieder.
Georg kannte diesen Weg, den sie da schritten, er war ihn Hand in Hand mit dem Manne, der ihn jetzt zum letzten Male nahm, so oft gegangen. Damals, als sie zum ersten Male durch die Grabreihen schritten, da war noch alle Blumenpracht des Herbstes offen. Auch auf dem Grabe, das ihr Ziel gewesen war, hatten die Astern und die Hellen Rosen voll geblüht.
Über ein Jahr war seitdem hingegangen. Nun war die weiße Decke wieder über all dem Todesleid.