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Schnee lag auf all den Gräbern, und die Bäume zu beiden Seiten des gefegten Weges bogen die Äste unter ihrer weißen Last wie demütige Beter zur Erde. Grabsteine aus schwarzem Marmor standen in feierlich friedvoller Ruhe zwischen ihnen. Nur aus den dichten Zweigen der Zypressen scholl hier und da ein Helles Vogelzwitschern.
Nun bog der Zug in einen Seitengang.
Leise nickten die langen Garben der Trauerweiden im sanften Wehen des Windes, als der Sarg mit seiner Blumendecke vorüberkam. Es war, als grüßten sie den stillen Mann, den sie oft gesehen hatten und der nun noch einmal zu ihnen kam, nur hier zu bleiben.
Dann war man an der Stelle, wo die blühweiße Decke des Schnees durchbrochen war, wo man, dicht neben Hansens Grab, das letzte Bett für Heinrich Gerold gerüstet hatte. — Der Zug der Trauernden hatte sich hier zu einen: weiten Halbkreis aufgelöst.
Georg stand mit entblößtem Haupte da. In dichter Reihe standen die Herren vor ihm und seiner Mutter, kaum daß er für Augenblicke die Gestalt Frau Gerolds und die kleine Sephi vorne sehen konnte.
Nun sprach der Priester — gegen die sonstige Gepflogenheit sprach er an diesen: offenen Grabe. Er redete schlicht und einfach von den: kurzen, pflichtgetreuen Leben des Dahingegangenen, von einen: unerforschlichen Geschick, das ihn so frühe von der Seite einer verzweifelten Gattin, die ihn: stets die treueste Gefährtin gewesen sei, von der Seite eines geliebten Kindes gerissen.
Aus der Reihe vorne tönte das laute, fassungslose Schluchzen der Frau Gerold.
Ein alter Herr mit weißen: Vollbart und gütigen: Gesicht stand neben ihr. Auf seinen Arm gestützt, drohte die arme Frau beinah zusammenzubrechen.
Als sie ruhiger geworden war, sprach der Priester
weiter.
Georg hörte nur den Schall der Worte, die von dem offenen Grabe herüberdrangen — er vermochte dem Sinne nicht mehr zu folgen in seinem Schmerz.
In wirren Bildern sah er die Dinge an sich vorüberziehen i Sephis angstvolles Kindergesichtchen, tränenheiß und suchend — Herrn Crispi, seltsam bleich mit fest verkniffenen: Mund und einem starren Blick, der über Frau Gerold hinwegsah, wie über jemand, den er nur ganz flüchtig kannte. Beinahe fremd war die Verbeugung, mit der erste begrüßte.
Als der Priester dann sei:: Gebet beendet hatte, der Sarg der Erde übergeben und das Grab gesegnet war, brachten mehrere Herren Kränze, die sie an der Stätte niederlegten. Auch sie sprachen an Heinrich Gerolds letzter Ruhestätte.
Schon während dieser Reden hatte es leise zu schneien begonnen.
Als die Worte verklungen waren, erhob sich in ergreifender Schönheit ein Chorgesang von Männerstimmen.
„Mendelssohn!" flüsterte ein Herr vor Georg seinen: Nebenmanne leise zu. Der nickte nur.
Und brausend und erschütternd zog durch die Todesruhe der Natur die Kavatine aus „Paulus":
„Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben. Fürchte dich nicht, ich bin bei dir. Sei getreu bis in den Tod." —
Immer dichter fielen die schweren Flocken. Sie legten sich auf die Kränze von Palmenblättern und blühenden Blumen und auf die braunen Schollen der Erde. Sie setzten sich auf den Pelzen und den hohen Hüten all der ernsten Männer fest, die nun, nachdem die Sänger geendet hatten, am Grabe Heinrich Gerolds vorüberschritten, um ihm den letzten Liebesdienst zu leisten.
Still und schweigsam gingen die Herren dann in kleinen Gruppen weiter, den: Ausgange des Friedhofes zu.
Frau Marie Bang hatte den Arm um die Schultern ihres Buben gelegt. So standen sie in wortlosen: Gebete, bis es leer geworden war vor ihnen.
Nur zwei Friedhofsgärtner waren noch geblieben. Sie trugen die großen Topfpflanzen beiseite, die bisher in: Hintergründe des Grabes gestanden hatten, und lehnten ein paar Schaufeln an den Grabstein, unter dem Hans Gerold ruhte.
Als letzte warfen Frau Marie Bang und Georg schneebedeckte Erde in die Grube.
Erst als der eine von den beiden Männern die Schaufel in den aufgeworfenen Hügel stach, gingen auch sie.
Auf den breiten Wegen, die der Zug nach dem Grabe geschritten war, und die früher frisch gefegt gewesen, lag weiß die Decke des neuen Schnees.
Immer weiter noch sanken die Flocken. Sie wiegten sich wie schwere müde Falter und flogen kühlend gegen Georgs heiß verweinte Augen. Sie streichelten ihn: sanft die Wangen und deckten jedes Fleckchen Erde zu. Die Tritte all' der Männer, die erst vor wenigen Minuten den Weg zum Ausgange des Friedhofes gegangen waren, wischten sie aus. Hier schritt das Leid, sie löschten seine Spur. Sie - würden mild und schützend auch das Grab verdecken, in den: Herr Heinrich Gerold nun bei seinem Söhnchen ruhte.
Und wie Georg neben seiner Mutter zwischen den ernsten Trauerweiden, zwischen den ragenden Zypressen und all' der weißen Ruhe in: Dämmerlicht durch den Fall der Flocken schritt, ergriff ihn ein Gefühl, als klänge aus den: Leben all' dieser schweigsamen Natur mit leiser Schwingung noch ein Nachhall des Gesanges, als spräche eine ewige Stimme, die so voll tiefster Güte und beruhigenden Ernstes war, zu diesen: neuen Grab und seinem Schläfer: Fürchte dich nicht, ich bin
bei dir. ...
Das waren die drei ersten Tage nach Herrn Heinrich Gerolds Tod gewesen.
Nur noch ein einziges Mal war Georg dann mit Sephi für ein paar Augenblicke zusammengetroffen, etwa eine Woche nach dem Begräbnis, als er mit seiner Mutter einen Besuch bei Frau Gerold machte.
Aber wie fremd, wie anders sah es da in den Räumen aus, an die sich so viele unvergeßliche Erinnerungen für ihn knüpften! Schon im Vorzimmer sah er die Veränderung. Da standen Körbe und Koffer, Kleider aller Art lagen auf einiger: Stühlen, und aus dem halbgeöffneter: breiten Garderobenschrank drang ein Geruch von Kampfer und vor: Naphthalin. Und auch in den Zimmern war es so. Die Vorhänge waren abgenommen, die Teppiche zusammengerollt.
Frau Gerold, die in einen: schwarzer: Schlafrock nach einer Weile, während derer: Frau Bang und Georg irr dem Speisezimmer wartete::, herüberkam, empfing die beider:, mit einer ein wenig unsicheren Herzlichkeit.
Sie bot ihnen Platz an und bat um Entschuldigung wegen des Zustandes, in den: sie die Wohnung träfen. Aber sie wäre im Begriffe zu packen und abzureisen. Sie hielte es hier nach all' dem Unglück gar rächt aus — sie würde krank und elend in der: Räumen, wo ihr ein jedes Stück und jedes Möbel immer wieder die Erinnerung wachriefe an all' das Unglück, das sie hier durchlebt hatte.
Sie zog ein feines Batisttüchlein mit dunkele::: Rande hervor und tupfte an die wie von einen: jäh aufsteigenden Tränenflor geröteter: Augen.
„Natürlich wäre ich noch vorher zu Ihnen gekommen, liebe Frau Bang, mit Sephi, die sich ja auch von Ihnen und von Georg verabschieden muß. Aber diese erster: Tage nach der:: Unglück. Sie körmen ja nicht wissen, wie furchtbar mich das getroffen hat — ich bin in diesen Tagen zu gar nichts gekommen. Der Arzt sagte auch, ich solle fort mit den: Kind wenigstens auf vier Wochen. Und ich will ja so froh sein, wenn wir aus dieser:: Unglückshaus hinaus sind. Denken Sie
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