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nur, zwei Liebe, die es uns schon genommen hat, Hans und meinen Mann!"
Sie weinte nun mit leisem Schluchzen vor sich hin.
„Ich kann gar nicht davon sprechen," sagte sie dann. Und darauf mit einem Versuch, ein wenig zu lächeln: „Als
ob es dadurch besser würde, Frau Bang. . .!"
Georgs Mutter sah zu Boden. Das Helle Licht, das durch die verhangenen Fenster fiel und sich leuchtend über die goldene Haarkrone der Frau Gerold goß, blendete ihre Augen.
„Wir haben ihn ja auch so lieb gehabt," sagte sie nur.
„Und Georg hat ja auch so viel verloren — das, was Herr
Gerold meinem Buben war, das wird ja nie wieder ein Mann für ihn sein: .
Frau Gerold nickte, aber eine leise, nervöse Unruhe lag dabei in ihren Zügen. „Ja, er war gut..." sagte sie.
Dann erhob sie sich schnell.
„Wart', Georg, du sollst ein Andenken an ihn haben —
ein Bild von ihm. Willst du?" Und da war sie auch schon
aufgestanden und durch die Tür in das frühere Arbeitszimmer ihres Mannes geschritten.
Nun fiel es Georg auf, daß die Portiere, die früher im Rahmen dieser Tür gehangen und an die Herr Gerold sterbend sich geklammert hatte, beseitigt war. Nur oben sah man noch die beiden Ösen, an denen die Messingstange befestigt gewesen war. Und wie der Bub durch die osten gebliebene Tür der Frau Gerold nachblickte, da sah er auch, daß das Harmonium nicht mehr im Zimmer stand. Ein Helles Viereck in der dunkeleren Farbe des Parketts zeigte die Stelle, von der man es genommen hatte, und die Wand darüber war leer und kahl.
Als Frau Gerold nach einem Augenblick wiederkam, hielt sie eine Photographie ihres Mannes, die in einem schmalen Holzrähmchen stak, in Händen.
„Hier, Georg, nimm, ich habe noch ein paar Bilder von dieser Aufnahme. Auch die ist schon über drei Jahre alt — aber es ist die letzte."
Georg dankte und sah lange auf das Bild.
So hatte Herr Gerold ausgesehen, als er ihn kennenlernte. Nun erst fiel es Georg wieder auf, wie sehr sich der Arme in dieser Spanne Zeit verändert hatte.
Vom Vorzimmer drangen Stimmen herein.
„Das wird Sephi sein," sagte Frau Gerold. „Ich habe sie mit der Lehrerin ein wenig spazieren geschickt. An Lernen war ja jetzt doch nicht zu denken, und ich komme nicht dazu, mit dem Kind auszugehen."
Und da ging auch schon die Türe auf, und Sephi kam herein.
Blaß und schmal war das liebe Kindergesichtchen, ergreifend die ganze zarte Gestalt in dem ernsten Trauerkleidchen.
„Georg — Frau Bang . . Dann ging sie auf ihre Mama zu, küßte ihr die Hand und reichte dem Freunde und seiner Mutter das Händchen. Verlegen stand sie nun an Georgs Seite.
Peinliche Stille war zwischen den vier Menschen, und Frau Bang, die mit der einen Hand immer wieder über den Griff ihres Schirmes hinstrich, dachte: Wie anders das nun alles ist, seit der Herr Gerold nicht mehr lebt. Er war das Glied, das uns verbunden hat — jetzt, wo er weg ist, bleibt nur noch die kleine Sephi. Sie sah auf das zarte Kind mit dem beinah durchsichtigen Teint, dem feinen Näschen und den blassen Lippen, und schüttelte leise den Kopf.
Das Kind würde sie nicht zusammen!)alten können, nun galt hier ganz allein die schöne Frau, der aber waren sie und Georg fremd.
„War's schön draußen?" fragte Frau Gerold.
Sephi nickte. „Das Fräulein hat mich wieder hergebracht, dann ist sie gegangen."
Jetzt wandte sich Frau Bang an Sephis Mutter: „Wollen Sie uns die Kleine nicht noch einmal schicken?"
Frau Gerold sah unschlüssig auf das Kind.
„Wir werden wohl schon in den allernächsten Tagen fahren. Ich warte nur noch auf die Erledigung von ein paar Sachen. Sie glauben nicht, was da für Scherereien und für Dinge an einen herantreten, wenn so ein Unglück geschieht. Wenn ich irgend kann, so komme ich mit der Sephi noch einen Sprung zu Ihnen."
Frau Bang erhob sich und reichte Frau Gerold die Hand. „Wenn ich Sie nicht mehr sehen sollte vor Ihrer Reise — ich wünsche Ihnen und der Sephi alles Gute!"
Dann bog sie sich zu dem Kinde nieder und küßte es auf den Mund und auf die Stirn.
„Wenn du mit deiner lieben Mama wieder hier bist, so vergiß uns beide nicht ganz, den Georg und mich."
Der Kleinen standen plötzlich Tränen in den Augen, aber sie schluchzte nicht.
Beinahe verlegen und scheu war auch der Abschied von Georg. Die Hände der beiden Kinder lagen ineinander. In der freien Hand hielt Georg das Bild des Herrn Gerold.
„Vielleicht kannst du doch noch kommen," sagte er.
Und sie warf einen unsicheren Blick zu ihrer Mutter hin und nickte. „Vielleicht . . ."
Dann schritt Frau Bang mit ihrem Buben wieder zwischen den Koffern und Körben des Vorzimmers hindurch.
Als sie eben die Tür öffneten, um in das Treppenhaus zu treten, stießen sie auf einen alten Mann mit krummem Rücken und abfallenden Schultern, der das Schildchen an der Tür studierte und nun eilig den Hut zog.
„Ich bitt' — werden entschuldigen" — fragte er —- „Sie kennen mir viallaicht sogen, is' dos hier, wo die abgelegte Herrenklaider zü verkaufen sind?"
Frau Marie Bang sah den alten Juden mit dem klugen, unterwürfigen Patriarchenkopf an, als verstände sie seine Frage nicht.
„No wegen das Inserat — ich hob' doch gelesen ..."
Jetzt zuckte sie die Achseln.
„Ich bin hier fremd ..." stieß sie hervor und wußte selbst nicht, wie ihr diese Worte auf die Lippen kamen. Dann drückte sie die Tür hinter sich zu und schritt mit dem Buben eilig über den Treppenflur und die Treppen hinunter. Ein Gefühl, gleichwie als fliehe sie dabei vor etwas Peinlichem und Schmerzlichem, hielt sie umfangen.
Kopfschüttelnd sah ihr der Alte oben nach.
„Nüü . . . nix für ungüt ..." sagte der langsam, strich sich mit der flachen Hand das spärliche Haar des Schädels an beiden Schläfen nach vorne, reckte sich ein wenig auf, als ginge er zum Angriff vor, und drückte auf den Knopf des Läutwerks.
Frau Bang und Georg konnten den Ton der Klingel noch hören. Sie hörten auch noch das Aufgehen der Tür und die devote näselnde Stimme: „Ich bitt' — werden entschuldigen — Sie kennen mir viallaicht sogen ..."
Dann klappte die Türe wieder, und es war ruhig im Treppenhause.
Georg hing an dem Arm seiner Mutter. Fest drückte die den großen Buben an sich. Und dabei mußte sie im Rhythmus die letzten Worte immer wieder denken: Ich bin' hier fremd ... ich bin hier fremd.
Jn den nächsten Tagen war es immer ganz besonders nett und sauber in dem einfachen Zimmer der Frau Marie Bang. Sie selbst hatte, wenn sie auch in der Küche an der Arbeit war, immer eine Schürze bereit liegen, um sie rasch vorzubinden, wenn Frau Gerold mit Sephi kommen sollte. Und jedesmal, wenn es draußen schellte, warf sie, ehe sie öffnete, rasch einen Blick in den kleinen Spiegel im Vorzimmer und sah, ob ihr Haar auch glatt war und ob das Kleid auch ordentlich saß.