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Menenius der Jüngere.
diesen Gesetzentwurf, der seine Unterschrift trage, wohl gelesen und, wenn gelesen, ob er ihn verstanden habe. Es knüpfte sich hieran eine lange Discussion über die künftige Stellung des ersten Reichsbeamten. Man sagte, daß, was für die Riesenschultern Bismarcks erträglich gewesen, nicht auch jedem Anderen in gleicher Weise gezieme, ja, daß es einfach lächerlich erscheine, wenn ein zünftiger Diplomat Vorlagen der inneren Verwaltung durch seine Unterschrift als von ihm ausgehend bezeichnen wolle. Ter neue Kanzler suchte sich mit schicklichen Worten aus der Affaire zu ziehen, indem er hauptsächlich bemerkte, daß die Ernennung von Stellvertretern für die einzelnen Verwaltungszweige sich feiner Meinung nach allerdings mehr und mehr zu einer festen Institution des Reiches ausbilden werde. Er bekam aber die Bemerkung zu hören, daß es des Reiches unwürdig sei, das bisherige Verhältnis des einzigen Reichsministers formell aufrecht zu erhalten, da es der Sache nach nicht ferner bestehen könne. Die Frage der Einsetzung von Reichsministern war somit wieder in den Vordergrund gedrängt, und wurde von der Presse ausführlich discutirt. Im Uebrigen verlief die erste Reichstagssession ohne erwähnenswerthe Zwischenfälle, und war auch von verhält- nißmäßig kurzer Dauer, da der Kanzler den Plan verfolgte, von Anfang an mit Gesetzesvorlagen möglichst zurückhaltend zu sein. Bemerkenswerth blieb dagegen die ersichtliche Neigung, Bismarcks Verwaltung, die Höhe seiner Gesichtspunkte, die Großartigkeit seiner Erscheinung als Staatsmann allenthalben zum Ausdruck zu bringen, sobald es sich darum handelte, der Regierung den Text zu lesen. Und gerade die Liberalen waren mit dieser nachträglichen Würdigung am freigebigsten.
Sehr bedeutsam erwies sich alsbald der Rücktritt Bismarcks in seiner Wirkung auf die Regierungen der Mittelstaaten. Man sing an, sich dort bewußt zu werden, daß jetzt nichts mehr im Wege stehe, um in den Genuß der kostbaren Rechte einzutreten, welche die Verfassung des Reiches bezüglich der Tyeilnahme an der Reichsregieruug diesen Staaten gewährt. Unter den Ministern jener Regierungen gab es manchen ehrgeizigen Herrn. Seit dein Beginn des alten deutschen Bundes bis zur Schöpfung des neuen deutschen Reiches stand diesen Regierungen eine Theilnahme an der großen Politik nicht offen. Als Mitgliedern des Reiches war sie ihnen formell gewährt; solange indeß Bismarck waltete, ließ das Schwergewicht seiner Persönlichkeit selbstständige ehrgeizige Aspirationen nicht aufkommen. Jetzt besann man sich rasch, daß dieses Hinderniß nicht mehr bestehe. Der Art. 8 der Reichsverfassung, welcher für die auswärtigen Angelegenheiten einen von den Bevollmächtigten der Mittelstaaten dominirten Ausschuß zusammensetzt, bot eine willkommene Handhabe. Man erwog, daß dieser Ausschuß sich als Durchgaugsstation für die Reichskanzlerwürde eigne, und den Weg dazu auch nichtpreußischen Staatsmännern eröffnen könne. Es wurde also bei nächster Gelegenheit, eine genauere Definirnng der Rechte dieses Ausschusses versucht, und dem neuen Reichskanzler eine bezügliche Denkschrift unterbreitet. Die Antwort ließ