- Lin Blick von der politischen Warte. -
bei gewissen Parteien Dogma, daß Deutschland mit Bismarck stehe und salle. Mit schlecht verhehltem Behagen hatte man die Entwickelung der Dinge verfolgt. Und als die neueste Wendung eingetreten war, erging sich die Presse daselbst in grenzenlosen Ausfällen. „Eine kurze Zeit lang" — so schrieb ein einflußreiches Blatt — „hatten wir fürchten müssen, das tausendjährige Reich deutscher Nation wieder erstanden zu sehen. Mit Freuden erkennen wir, daß diese Furcht unbegründet war. Die Deutschen kehren zurück zu der Position, auf die ihr wohlbekannter Volkscharakter sie verweist. Noch eine kurze Frist, und jenes deutsche Reich, nur welches man seit 1870 so viel Aufhebens gemacht hat, besteht nicht mehr. Was für uns zurückbleiben wird, sind die Erfahrungen; und wir werden nicht säumen, unsere Consequenzen zu ziehen. Inzwischen können wir noch eine Zeit lang ruhig zusehen. Wir wußten immer, daß Ihr Deutschen in der Politik unleidliche Gesellen seid. Ein Bismarck verstand es, Euch zu lenken, wartet also, bis ein neuer kommt; so lange er aber nicht gefunden ist, beugt Euch vor uns". Noch boshafter war die Sprache der russischen Presse. Ihre Organe erinnerten das russische Volk, daß Deutschland sich seit 1870 geberdet habe, als ob seine Einigkeit ein selbstverständliches, für alle Zukunft gesichertes Ding sei. „Wir kennen die Deutschen anders", schrieb eine große Moskauer Zeitung. „Die deutsche Einigkeit war ein vorübergehendes Blendwerk; in der Geschichte wird sie nur die Bedeutung einer kurzen, wenngleich merkwürdigen Episode erlangen. Ist sie erst vorüber, daun wird Rußland seinen westlichen Nachbarn ihr Verhalten im letzten Türkenkriege und auf dem Berliner Congreß heimzuzahlen wissen. Frankreich und Rußland im Bunde werden dafür sorgen, daß sich die Vorgänge von 1870 nicht mehr wiederholen". — — —
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Man kann den vorstehenden Abriß dieser sonderbaren Zukunftsgeschichte nicht wiedergeben, ohne den lebhaften Wunsch, daß der Verfasser ein arger Schwarzseher gewesen sein möge. Indessen ist doch nicht zu leugnen, daß seine Darstellung mancherlei Betrachtungen anregt. Je weniger seitens einer großen Zahl von Deutschen die Person Bismarcks ausreichend gewürdigt wird, je anmaßender man auf vielen Seiten über die Folgen seines eventuellen Rücktrittes denkt, desto nrtheilsloser überläßt sich die große Masse dein behaglichen Bewußtsein der durch Bismarck geschaffenen Situation. Daß die ganze Freude des Deutschen Reiches erst zehn Jahre alt ist, ein Zeitraum, der, mit den Maßen der Geschichte gemessen, nur einen Moment bedeutet, wird selten in Betracht gezogen. Man beträgt sich, als sei das tausendjährige deutsche Reich zu neuem, ewigem Leben erwacht, als sei dieser Zustand ein ganz natürlicher, als stehe dieses Reich ans so festen Füßen, daß man der Lust, daran zu rütteln, ungestraft fröhnen könne. Und doch hat in Wahrheit dieses deutsche Reich vom alten Reiche nichts als den Namen iiber-