Issue 
(1880) 40
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Rudolf Seidel in Leipzig.

möglich entfernt; ich werde streben, Christi und jedes guten Christen Bruder zu sein; ich werde die christlichen Sitten wählen, die Rosen der Christen genießen, das Kreuz der Christen tragen, es soll, um mit Jenen zu reden, Jesus mir Alles sein". Nicht mehr der dogmatische Glaube an den gestorbenen, zur Sühne der Menschenschuld geopferten, sondern die innere Aneignung des lebendigen Christus wird hier zum Quell der Freudigkeit, die das Kreuz vergessen macht, und die Rose wird zugleich damit zum Kennzeichen einer liebevollen, brüderlichen Ver- ' bindung unter Allen, welche aus dem gleichen Lebensquell schöpften, ob sie auch nicht den gleichen dogmatischen Lehren zugethan sein mochten. Denn es ist deutlich, daß Andrea auf eine Kirchengestaltung hinauswies, für die nicht irgend welches dogmatische Bekenntniß, sondern das religiös-sittliche Lebensprincip, das sich in der geschichtlichen Persönlichkeit Jesu verwirklicht hat, das verknüpfende Band und tragende Fundament bildet, ein Kirchenideal, dessen Consequenz unfraglich die Freigebung der dogmatischen Ueberzeugungen an die wissenschaftliche Wahrheitforschung ist. Aber auch nach einer anderen Seite streute er seine Rosen aus: sein Kirchenideal wird ihm zugleich zum Staats- und Gesellschaftsideal. Seine Schriften: Rsipudlioas Ollristiauopo- litanas ässeriptio, 1619, welche man mit Recht den ersten deutschen Staats­und Socialroman nennen kann, und: 6llri.8tianas sooistatiZ icisa, 1620 treten in die Fußstapsen des 1534 Hingerichteten Großkanzlers Heinrich VIII. von England, Thomas Morus, und seiner Schilderung der idealen Insel Utopia, die uns noch heute für ähnliche Phantasieentwürse den verwerfenden Namen leiht. Communistische Ideen erscheinen hier, zugleich im Anschlüsse an urchristliche Zustände und an die platonische Jdealpolitik, als Folgerungen aus dem christlichen Liebesprincip, verzeihlich für die ersten Kindheitsschritte des protestantischen Christenthums auf seinem Wege in die irdische Realität uns aber ein bedeutsames und willkommenes Zeugniß dafür, daß die Auf­gabe des Christenthums, diese irdische Realität von innen heraus umzu­gestalten, anstatt lediglich über sie emporzuheben, den beglückenden Geist der Liebe in ihre Lebensformen zu gießen, anstatt die Verachtung dieser Lebens­formen zu predigen, jetzt auch in Bezug auf Staat und Gesellschaft erkannt zu werden begann. Das Irdische mit dem Himmlischen zu durchdringen, und dadurch auch die Auffassung des Himmlischen selbst ihrer spröden Weltferne und Weltseindlichkeit zu entkleiden: dies tritt sonach auch hier uns als die Tendenz entgegen, die das Kreuz mit Rosen umgab. Sichtlich aber ist der Grundgedanke hier bereits viel weiter entwickelt, als bei Luther.

Die Spur des Symbols geht uns jetzt, mit Ausnahme der bereits erwähnten mißverständlichen oder unredlichen Ausnutzungen der Schriften Andreäs bis in das achtzehnte Jahrhundert hinein verloren; ich wenigstens fand sie nicht eher wieder, als bei Goethe.

Es ist mir nicht bekannt, ob in der so umfänglich gewordenen Goethe-