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sofort au Ort und Stelle ausgenommen, unterzeichnet und besiegelt, und beruhigten Gemüthes verfügte sich alsdann die hohe Gerichtskommission wieder auf das Rathhaus zurück. Dort wurde Ursel ans ihrem Gesängniß herbeigerufeu und ihr mit der pedantischen Umständlichkeit des alten Gerichtsverfahrens der Inhalt des Protokolls bekannt gegeben.
Sie hatte im Gefühl ihrer Unschuld der Folterqual trotzig ins Auge geschaut; angesichts der Gewißheit vom Selbstmorde Sixts fühlte sie znm ersten Male ihre Kraft zusammenbrechen. Ein Schwindel lief durch ihren Körper, und sie stützte die Hand auf die Gerichtsschranken.
Die höchste Schmach, die ein Familienglied und in ihm eine ganze Sippe betreffen konnte, blieb ihr also Vorbehalten, ihr, die- sie stets so stolz auf das Ansehen ihrer Familie sich gezeigt, das der wachsende Besitz von Jahr zu Jahr erhöht hatte! Was war im Vergleich damit selbst die Anklage ans Mord gewesen, da ihre Unbegründetheit ja doch zu Tage kommen mußte, wenn es einen Gott im Himmel gab? Und nicht die Scheu vor äußerer Entehrung allein machte sie bei dem Gedanken eines unehrlichen Begräbnisses des Gatten erschauern; war es nicht, als werfe es einen Schatten der ewigen Verdammnis; voraus, als bilde es ein Präjudiz der weltlichen Gerechtigkeit gegenüber der Barmherzigkeit des Himmels?
Stolz und Sicherheit vergingen ihr nun mit einem Male. Jenes starre eiserne Weib, das sich bisher so unnahbar aufrecht erhalten, fiel demüthig ihren Richtern zu Füßen und flehte, ihr und ihrem Hause eine Schmach zu erlassen, die von sich abzuwenden oft zu entehrender Todesstrafe verurtheilte Verbrecher nicht ohne Erfolg mit rührender Inständigkeit gebeten.
Und fast unerbittlich schienen die Richter in diesem Punkte. Tie Geistlichkeit nahm es allzu streng damit, und die Nachbarschaften erwiesen sich hierbei immer gar sehr Protestirlich und vermeinten, daß dergleichen Körper in geweihter Erde nichts als Unheil, Schauer und Hochwetter zu verursachen pflegten. Schwer war auch in der Regel der Beweis zu erbringen, den Paragraph 135 von Kaiser Karl V und des heiligen römischen Reiches peinlicher Halsgerichtsordnung für diesen Fall vorschricb: „Daß nämlich, wer sich selbst ertödtet, aus Krankheit des Leibes, Melancholy, Gebrechlichkeit des Sinnes oder anderen dergleichen Blödigkeiten gehandelt."
Mit Mühe gelang es den Bitten Ursels, dem Ansehen ihrer Familie und auch dem guten Andenken ihres Vaters, diesen Milderungsfall als für sie gegeben annehmen zu machen, und cs wurde ihr endlich gestattet, den Leichnam ihres Mannes von anderen als entehrenden Frohns- händen ans dem Brunnen ziehen zu lassen und ihm, wenn nicht ein Grab in geweihter Erde, so doch ein „ehrliches" zu geben. Daran aber wurde d'ie ausdrückliche Bedingung geknüpft, daß alles binnen zwei Tagen geschehen sein müsse, und daß mit dein dritten der Henker wieder in seine Rechte ein- treten solle. Darauf hin wurde sie noch spät abends ihrer gefänglichen Haft entlassen.
Aufrechten Hauptes schritt sie durch die Büttel und Rathsdiener die Treppe des Rathhauses hinunter, durch die dunkelnden Straßen der Stadt, wo da und dort ein verwunderter Blick ihr Angesicht streifte. Mechanisch öffnete sie die Thüre ihres Hauses, machte Licht in der kalten Stube und ließ sich dann schlaff auf die Bank vor dem Tische niedersinken. Das Haupt fiel ihr schwer und bleiern in die Hand; die Augen starrten fix immer in ein und derselben Richtung. Regungslose Ruhe umgab sie, und eine Art von gedankenvoller Erstarrung umspann ihre Seele mit geheimen Fesseln.
So war er ihr denn entflohen durch das dunkelste Thor, dessen Flügel sich vor keinem mehr öffnen, hinter dein sie sich einmal geschlossen! Und so war ihre Nähe, der Umgang und die Ehe mit ihr in der Thal so schrecklich, so unerträglich gewesen, daß er ihr die gewaltsamste Lösung vorziehen mußte? Ein Gefühl schmerzvollen Ungeliebtseins und tiefer Verlassenheit schnitt ihr durch die Seele. Es war ihr immer gewesen, als habe sie Sixt lieben wollen; nun wurde sie an sich inne, daß sie ihn wirklich geliebt habe. Das Eis schmolz, und was sie nicht gethan am Grabe ihres Vaters, beim Zusammenbrechen
ihres häuslichen Glücks und Wohlstands, angesichts des Blutgerüsts und der öffentlichen Entehrung, jetzt that sie es, hier in den verödeten Räumen, wo alles sie an den Verlorenen erinnerte; sie weinte, sie beweinte den Tobten. Was Schmerzvolles er ihr zugefügt, war wie weggewischt aus ihrer Erinnerung, nur die schönen Züge seines Wesens standen leuchtend vor ihrem inneren Blick, und auch Ursel erfuhr au sich in dieser harten Stunde, daß das Grab eine Grube ist, die das erfahrene Leid verschlingt und bedeckt, und ein Hügel, aus dem die besseren und besten Erinnerungen neugrünend sprossen. Und wenn ja die Reihe Heller Bilder ein Mißklang unterbrach, so waren es eine leise Selbstanklage, beginnende Gewissensbisse und der Ansatz einer quälenden Reue.
Dies alles machte sie denn auch wieder unruhig und entriß sie der bittersüßeil Hilflosigkeit eines ausweichenden Schmerzes. Sie erinnerte sich, daß das Schicksal noch eine That von ihr verlangte. Wohl war es ihr bewußt, daß es nicht allzu leicht sei, Leute zu finden, die bereit wären, für den Freimann einzutreten, denn die Grenzlinie zwischen den ehrlichen und unehrlichen Gewerben war eine scharfe und streng beobachtete, und besonders erwies sich die Scheu der „Ehrlichen" in jenen vor- urtheilsvollen Zeiten vor der Berührung alles dessen, was irgend wie zu der Domäne des anrüchigsten aller Menschen, des Scharfrichters, gehörte, um so stärker, als dergleichen Berührungen die eigene Unehelichkeit zur Folge haben konnten. In den, in den letzten Jahren vorgefallenen Präcedenz- fällen hatte sich denn auch in der Stadt selbst niemals jemand gefunden, der gewagt hätte, das Begräbniß von Selbstmördern auf sich zu nehmen. Selbst der verachtete Büttel wollte sich nicht dazu hergeben, und so blieb, wenn es gelang den Freimann zu umgehen, nichts anderes übrig, als einige arme Söldner vom Lande herbeizurnfen, und selbst diese vollbrachten die ihnen anfgetragene Verrichtung, wie die Chroniken berichten, um allen Folgen auszuweichen, nur vermummt.
Auf dergleichen Leute rechnete nun auch Ursel. Besaß sie doch einen Schlüssel zu dem rauhen Herzen solcher Menschen, der fast nie versagt: die Schatzgelder ihres Vaters waren noch unberührt. Der Gedanke, daß sie dieses ominöse Streitobjekt zwischen sich und ihrem Gatten nun doch noch zu dem Besten des letzteren anwenden könne, berührte sie befreiend wie eine Sühne. Leise schob sie die Truhe hinweg, öffnete den geheimen Wandschrank — was war das? — ihr Odem stockte; sie suchte mit fieberhafter Hast im Dunkel. Vergebens! Der Sack war verschwunden; sie war während ihrer gefänglichen Haft bestohlen worden!
Diese Entdeckung traf sie wie ein Donnerschlag und schien allem von ihr bisher Erlittenen die Krone aufznsetzen. Von jeher hatte sie den Besitz geliebt und war stolz darauf gewesen; nun lernte sie ihn zum ersten Mal schätzen, nicht um seiner selbst willen, sondern als Mittel zum Zweck. Sie dachte in diesem Augenblick nicht an die Schwierigkeiten und die Qual vollständiger Mittellosigkeit, aber die Vorstellung, daß ihr Gatte der dargebotenen Möglichkeit eines ehrlichen Begräbnisses nun um schnöden Geldes willen verlustig gehen sollte, war ihr nicht nur unerträglich wegen der damit verbundenen Verunglimpfung ihrer Familie, sondern in Folge eines herzlichen Mitleids mit dem Verblichenen, den trotz seiner Verirrungen ihr Herz von so schwerer Schuld und Strafe frei sprach.
Doch was in aller Welt sollte sie beginnen? Die Erfahrungen der letzten Zeit hatten sie gelehrt, daß in dem Gedankenaustausch mit schadenfrohen Nachbarinnen kein Trost zu finden sei; ihre Beziehungen zu ihren wenigen entfernten Verwandten in der Stadt waren zum Theil gespannt, zum Theil längst abgebrochen, sic besaß niemand, an den sie sich in ihrer Bedrängnis; mit der geringsten Aussicht auf Erfolg hätte wenden können und mögen. Einen Augenblick dachte sie an den Verkauf ihres Hanfes. Aber sie bedurfte einer schützenden Hülle ihres Schmerzes und ihrer Schande, und hatte sie Aussicht, in Zeitläuften allgemeiner Verarmung so plötzlich einen Käufer zu finden?
Die Zeit drängte. Der Büttel hatte im Auftrag des Raths schon am ersten Tage angefragt, wann das Werk ge-