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L. Zoeller-Lionheart. Ihr Geheimniß.
Ihr ward die köstlichste Gabe der heiligen Nacht — eine Christbescheerung, nach der ihre Seele lange dürstete — ihr ward die göttliche Spende der Vergebung. —
„Herrgott, sitzen Sie noch im Dunkeln — wo steckt das liederliche Pack von."
Weiter kam der Geheimrath in seiner Entrüstung nicht. Der schräge Helle Lichtstreisen hatte ihm plötzlich Alles gezeigt, da er auf Fußspitzen über den Teppich an das Lager gehuscht war.
„Eine traurige Weihnachten," setzte er dann mechanisch hinzu, und dann kam er verwundert schon wieder zum Stillstand. — Das Gesicht des Todten und der Lebenden sahen garnicht traurig aus, ja sonderbar glücklich und von stillein Frieden übergossen, als hätten die Beiden in den letzten Stunden ganz überirdisch hohe Freuden durchkostet. Als habe der Todesengel verklärend beider Stirnen geküßt, ein solches Leuchten ging von Beiden aus.
Die hehre Majestät des Todes schauerte — er wußte nicht wie — über den Vielbeschäftigten hin, daß er sich ordentlich ein Herz fassen mußte, das heilige Schweigen nochmals zu brechen.
„Lassen Sie die Todten jetzt ihre Todten begraben — dem sind Sie nichts mehr nütze, Schwester Caritas, kommen Sie."
„Lassen Sie mich noch die Todtenwache halten und — und —" sie sprach es mit Anstrengung — „dem Verlassenen hier das letzte Geleite geben."
„Die Lebenden haben größere Anrechte an Ihre Dienste — ich brauche Sie an einem anderen Krankenbett," tadelte er nicht ohne Schärfe.
Mit resignirendem Seufzer gehorchte sie, stand auf und küßte im Rücken des vorausgehenden Arztes mit zitterndem Munde in geheimnißvoller Hast die kalten stummen Lippen der Leiche.
Dann schritt sie geduldig ihm nach, hinaus in das Leben der Pflicht, hörte stillschweigend zu, wie er draußen Anordnungen traf zur Ueberführnng der thenren Leiche in das Leichenhans, stand mit scheinbarer Theilnahmlosigkeit daneben, während er ein Telegramm an den Bruder des Verstorbenen flüchtig hinkritzelte und dem Kellner zur Besorgung ausgab, trabte neben ihm, mechanisch Schritt haltend,
die menschenleeren Trottoirs der Friedrichstraße entlang. Ein Mal stand sie eine Secunde still und zog das schwarze Wolltuch fröstelnd über der Brust zusammen — ihre Zähne schlugen leise aufeinander.
„Frieren Sie, Schwester, wollen nur eine Nachtdroschke nehmen? Sie wollen nicht?" —- als sie mit leisem Kopfschütteln ablehnte; „es lohnt sich auch kaum noch; nur um die nächste Ecke und wir sind an Ort und Stelle. Ja, ja, leicht ist unser beider Beruf uicht im Dienst der Menschenliebe, herzlich wenig Dank ernten wir alle Beide wohl, daß es für uns keine Fest- noch Rasttage giebt und keine Nacht- noch Tagesruhe, wenn die Pflicht ruft. Wir müssen schon in der schönen Selbstzufriedenheit unseren Lohn suchen, was, Schwester Caritas? — Wahrhaftig, da hat der Schafskopf von Portier doch die Hansthür schon verschlossen. Ich sagte ihm doch so ausdrücklich, daß . . . ."
Das bewegliche kleine Herrchen strengte nun die ganze Macht seiner Lunge und seiner klatschenden Hände an, den Nachtwächter herbeiznrnfen.
„Nun, Leidensgefährte, Dritter im Bunde der Märtyrer der Menschheit," rief er humoristisch den Mann an, „schließen Sie mal ein bischen schnell auf, sonst frieren wir hier an. Hu, wie der Nordwind saust!"
Er rieb ein Wachsstreichhölzchen an und sie tappten sich durch den prächtigen, von Karyatiden getragenen Hausflur, an den Plüschgeländen der läuferbedeckten Marmortreppen bis zur ersten Etage in die Höhe, wo durch bunte Kirchenscheiben des Flnrfensters eine verhältnißmäßige Helle von den Hoflaternen kam.
Der Geheimrath schellte ungeduldig an der ersten Thür, aus deren blankem Messingschild Schwester Caritas den Namen „Vautier" undeutlich zu entziffern glaubte. Zögernde Schritte kamen endlich heran, eine ängstliche Stimme fragte von innen, wer da sei und auf die barsche Antwort wurden einige Riegel und Sicherheitsketten entfernt, ehe hinter der znrückgeschlagenen Thür in dein erleuchteten Flur eine ältliche, hagere, vertrocknete Dame znm Vorschein kam.
(Schluß folgt.)