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Band 2 Heft 1
Seite
57
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OrTis, Berlin 2(1994) 1, S.57-65

Ornithologie im Berlin der 20er Jahre

Von ERICH RUTSCHKE , Potsdam

1. Einleitung

Das Ende des ersten Weltkrieges, die Revolution und der Sturz des Kaiserreichs setzten in Berlin , der deutschen Hauptstadt, eine beispiellose Entwicklung in Gang. Neue Richtungen und Denkweisen belebten Kultur, Kunst und Wissenschaft und brachten das gesamte geistige Leben zu nie zuvor gekannter Blüte. Trotz lang anhaltender revolutionärer Wirren, Inflation und Weltwirtschaftskrise mit Massenarbeitslosigkeit und sich zuspitzender politischer Konfrontation durchpulste die Stadt weltstädtisches Leben, das sich in den grellen Farben der Leuchtreklamen und den heißen Rhythmen des Charleston artikulierte. Rückschauend wird das Jahrzehnt nach dem verlorenen ersten Weltkrieg zu den"Goldenen 20ern" verklärt. In der Tat gibt es kein anderes in diesem Jahrhundert, in dem sich geistiges Leben in so reicher Fülle entfaltete. Die deutsche Wissenschaft erreichte mit den Ideen Einsteins, die einen Wandel des Weltbildes der Physik bewirkten, einen Höhepunkt.

Dieser Hintergrund, die einmalige Entfaltung gesellschaftlichen und geistigen Lebens, gibt Anlaß für die Frage nach dem Stand und der Entwicklung der Ornithologie in jener aufregenden Zeit. Das mag anmaßend scheinen, denn die Ornithologie ist nur eine winzige Facette der Wis­senschaften und des gesellschaftlichen Lebens. Doch sie vereint gleichermaßen Laien und Professionelle und damit Menschen aus den verschiedensten Gesellschaftsschichten. Das rechtfertigt die Frage, ob sich der Geist jener Zeit auch im ornithologischen Leben finden läßt.

2. Die Situation in der Ornithologie zu Beginn der 20er Jahre

Vor dem Kriege und bis in die Kriegsjahre hinein wurde das ornithologische Leben in Berlin gänzlich durch das Zoologische Museum bestimmt. In der ornithologischen Abteilung und damit in den Händen des Kustos, das war ANTON REICHENOW , liefen die Fäden zusammen. Der Zusammenbruch des Kaiserreichs und die Revolution brachten einen gewissen Stillstand, doch schon im Oktober 1920, also knapp zwei Jahre nach dem Ende des Krieges, trafen sich die deut­ schen Ornithologen, wie zuvor in der Deutschen Ornithologischen Gesellschaft vereint, in der Hauptstadt. Zwei Männer standen für Zusammenhalt und Kontinuität: HERMAN SCHALOW , der erste Vorsitzende, und REICHENOW , der Kustos der ornithologischen Abteilung des Berliner Zoologischen Museums. SCHALOW hatte mit der Herausgabe der"Vogelwelt der Mark Branden­burg"(1919), die trotz enormer Schwierigkeiten ein Jahr zuvor, also fast unmittelbar nach Kriegsende erschienen war, ein Signal in Richtung Faunistik gesetzt. Trotz unverkennbarer Schwächen im faunistischen Teil rief sein Werk nicht nur in Berlin und in Brandenburg ein positives Echo hervor. In den Rezensionen wurde die Bedeutung für die weitere faunistische Erforschung der Mark und der Faunistik in Deutschland hervorgehoben. Es dauerte nur zwei Jahrzehnte bis KUHK mit der"Vogelwelt Mecklenburgs"(1939) und TISCHLER mit der"Vogel­welt Ostpreußens "(1941) nachzogen. REICHENOW , obwohl in seiner wissenschaftlichen Arbeit