Zeitschrift 
Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
Seite
152
Einzelbild herunterladen

| | | | | | | | |

Buchbesprechung

Buchbesprechung

Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V.(1991). Erwachsenenbildung für Menschen mit geistiger Behinderung. Referate und Praxis­berichte. Marburg/Lahn: Lebenshilfe- Verlag. 164 Seiten

Der vorliegende Band enthält im ersten Teil Referate, die auf einer von der Lebenshilfe im Jahre 1989 veranstalteten TagungEr­wachsenenbildung für Menschen mit geisti­ger Behinderung gehalten wurden. Im zwei­ten Teil finden sich Erfahrungsberichte über Erwachsenenbildungsarbeit mit Behinderten und der Anhang enthält u.a. eine Literatur­auswahl und eine Grundsatzempfehlung vom AusschlußErwachsenenbildung für geistig behinderte Menschen zum Thema.

Im ersten Beitrag bemüht sich Schwarte, aufzuzeigen, um was es sich bei Erwachse­nenbildung für Menschen mit geistiger Be­hinderung eigentlich handeln soll.

Er geht aus von der Diskussion zentraler Begriffe wieJugend,Erwachsener und Bildung und charakterisiert die Erwachse­nenbildung als Zielgruppenarbeit, aus der keine Teilgruppe der Geistigbehinderten grundsätzlich ausgeschlossen werden darf (S. 18). Es handelt sich hier also um normale Bildungsarbeit, die grundsätzlich zu unter­scheiden ist von Freizeitangeboten und ins­besondere von Therapie(S. 19).

DemNormalisierungsprinzip folgend hält er Geistigbehinderte für lernfähig, die auch im Erwachsenenalter ihre Leistungen noch steigern können(S. 28). Im Regelfall sollte deshalb, wie er meint, die Erwachsenenbil­dung mit Behinderten auch in die allgemei­nen Volksschulen integriert werden. Grundsätzlich ähnliche Positionen werden auch im zweiten Beitrag von Baumgart ver­treten. Theoretisch interessant ist hier der Versuch, die auf Bruner und Piaget basieren­de Lerntheorie von Lompscher für die Son­derpädagogik nutzbar zu machen.

Leider enthält dieser Beitrag zu viele Forde­rungen und Behauptungen, die nicht weiter begründet werden, wie z.B. folgende diskus­sionswürdige Bemerkungen:Je schwerer die Behinderung ist, um so mehr sollten die Bildungsangebote auf der Ebene körperli­chen Lernens angesiedelt sein.(S. 53) Auch finden sich einige Trivialitäten wie die Feststellung, daß sich aus einer Arbeitsgruppe

152

von acht Personen auch zwei Gruppen von je vier Personen machen lassen(S. 44).

Die folgenden Referate und Erfahrungsbe­richte sind vor allem für Praktiker der Er­wachsenenbildung interessant und auch ex­plizit an diese gerichtet(S. 95).

Es wurden die unterschiedlichsten, teils schon gut bekannten Einrichtungen und Projekte vorgestellt, so z.B. der FachbereichErwach­senenbildung für Behinderte an der kom­munalen Volkshochschule in Nürnberg(Ham­bitzer), der Ausschuß für Erwachsenenbil­dung bei der Bundesvereinigung Lebenshilfe (Badelt u. Göbel), eine Mitarbeiterfortbildung (Tüxen), das Heidelberger Modell(Höss u. Goll), die Tagesbildungsstätte im Theodor­Heckel-Bildungswerk in München(Bronder) und ein Modellversuch zur Integration in England(Billis).

Die meisten dieser Beiträge liefern sehr hilfreiche Informationen über Konzeptionen und Themen der Kursangebote sowie über Kursgrößen und Kursbetreuung, die Quali­fikation der Lehrkräfte, Unterrichtsmittel, Räume, Organisation des Transports sowie Kosten und Finanzierung.

Die wichtigsten Ergebnisse dieser Beiträge kann man folgendermaßen zusammenfassen: aufgrund der Orientierung am Normalisie­rungsprinzip hat sich weitgehend die Ein­sicht durchgesetzt, daß es sich bei Bemühun­gen, wie sie in dem vorliegenden Band darge­stellt werden, nicht umBehindertenarbeit, sondern umErwachsenenbildung handelt. Das bedeutet, daß kein anderer Bildungsbe­griff zugrundegelegt werden kann(Schwar­te, S. 20) als in der allgemeinen Erwachsenen­bildung und auch die Methoden und Ziele weitgehend die gleichen sind(Baumgart, S. 37). Voraussetzen muß man dabei, daß auch Geistigbehinderte im Erwachsenenalter noch lernfähig sind(Schwarte, S. 28, Höss u. Goll, S. 119).

Die Folge ist eine deutliche Abgrenzung ge­genüber Freizeitangeboten und Therapie (Schwarte, S. 19) und die Betrachtung der Behinderten einschließlich der Schwerstbe­hinderten als eine Zielgruppe der Erwachse­nenbildung neben anderen(Schwarte, S. 19 u. Hambitzer, S. 67).

Eine weitere Konsequenz dieses sich etwa seit 10 Jahren abzeichnendenneuen Bildes von Behinderten ist auch die Forderung nach

Teilnehmerorientierung der angebotenen Kurse und nach Mitbestimmung, insbeson­dere bei der Themenwahl(Höss u. Goll, S. 120). Auch wird in mehreren Beiträgen die Ansicht vertreten, daß es zurNormalisierung bei­trägt, die Kurse nicht in Behindertenein­richtungen, sondem in Volkshochschulen (Schwarte, S. 27) stattfinden zu lassen. Wenn man aber gleichzeitig den Einbezug des so­zialen Umfeldes des Behinderten in den Lerprozeß fordert(Schwarte, S. 29) ent­steht ein Widerspruch, denn das würde ja erforderlich machen, daß man sich aus der Volkshochschule heraus und in dieses Um­feld hineinbegibt, und dieses leitet über zu einer der Merkwürdigkeiten des vorliegen­den Bandes. Ein weiter Bereich des sozialen Umfeldes des Behinderten wird von seiner Arbeitsumgebung abgedeckt und diese Tat­sache findet in dem Band keine Berücksich­tigung. Dies wird zwar gelegentlich beklagt (Baumgart, S. 39), dennoch wird Erwachse­nenbildung hier weitgehend unabhängig von Bezügen zum Arbeitsplatz diskutiert. Dies ist erstaunlich, da ja bekannt ist, daß die Kompensationsthese sowohl bei Behinder­ten als auch bei Nichtbehinderten als geschei­tert gelten kann. Es ist eben nicht so, daß die Folgen täglich ausgeübter monotoner Arbeit (wie in der WfB) durch den Besuch von Volkshochschulkursen ausgeglichen werden kann. Wenn das Ziel der Bildungsarbeit Per­sönlichkeitsentwicklung sein soll, wie dies auch der Ausschuß in seiner Grundsatzemp­fehlung fordert(S. 146), muß man über die Vermittlung lebenspraktischer Fertigkeiten deutlich hinausgehen(so auch Bronder, S. 132). Ich habe deshalb schon an anderer Stelle(Zs. f. Berufs- und Wirtschaftspädago­gik, H. 6, 1990, S. 490 ff.) ausgeführt, daß ein Fortschritt in der Persönlichkeitsentwicklung bei geistig behinderten Menschen nur zu erwarten ist, wenn außer Erwachsenenbil­dung auch pädagogische Unterstützung am Arbeitsplatz angeboten wird und beide Maß­nahmen möglichst eng miteinander verzahnt werden. Es bleibt zu hoffen, daß sich die Diskussion um die Erwachsenenbildung für Menschen mit geistiger Behinderung auch in diese Rich­tung weiterentwickelt.

Prof. Dr. Gerd Laga, Hannover

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVIII, Heft 3, 1992