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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Richard G.E. Müller 80 Jahre alt

Als Helmut von Bracken und Hermann Wegener 1964 die ZeitschriftHeilpäd­agogische Forschung gründeten, ge­schah dies in der Absicht, einen‚Sam­melpunkt der Forschungsarbeit zu schaffen, in demBeiträge zur wissen­schaftlichen Durchleuchtung der heil­pädagogischen Erziehungs- und Unter­richtsarbeit in Geschichte und Gegen­wart Platz finden konnten.Empiri­sche Arbeiten, so schrieben die Her­ausgeber damals,über die verschiede­nen Formen psychischer und somati­scher Normabweichungen und ihre Aus­wirkungen auf Bildungsprozeß und Bil­dungshilfe sollten dabei im Vorder­grund stehen. H. von Bracken begrün­dete dies damit, daß in der Heilpädagogik zwar alle Forschungsrichtungen der all­gemeinen Erziehungswissenschaft von Bedeutung, systematisch-empirische Ar­beiten aber besonders zu gewichten sei­en, und zwar deshalb, weil für die heil­pädagogische Arbeit notwendige neue Wege stärker noch, als dies für die Päd­agogik allgemein gilt wissenschaftlich­kritisch zu kontrollieren seien. Der bloße Bezug auf Erziehungstradition reiche hier nicht aus. Die Tatsache, daß zwischen Heilpädagogik und anderen empirisch arbeitenden Disziplinen, wie Medizin, Psychologie und Soziologie unverzicht­bar enge Beziehungen bestehen, dispo­niere sie überdies dazu, auch in ihrem Bereich empirische Forschung zu pfle­gen(vgl. HeiFo 1964, Bd. 1,111).

Von Bracken und Wegener achteten da­her von Anfang an darauf, einen Kreis anerkannter Wissenschaftler und Prak­tiker als ständige Mitarbeiter für die neue Zeitschrift zu gewinnen, die Ge­währ für die erwünschte Interdisziplina­rität, Forschungsvielfalt und empirische Gewichtung boten. Richard Georg Edu­ard Müller gehörte zu denen, die die Linie des neuen Publikationsorgans gerne un­terstützen wollten, und jenen Persönlich­

keiten, auf die die Herausgeber ihr Ver­trauen setzten. Seit der Gründung der Zeitschrift hat er ihr über alle Jahre hin die Treue gehalten, ist über bloße Mitar­beit in Gestaltungsaufgaben hineinge­wachsen und hat unter ungünstigen Be­dingungen das Periodikum acht Jahre als geschäftsführender Schriftleiter sicher durch manche Fährnisse geleitet.

Nun war R.G.E. Müller gewiß in hervor­ragender Weise geeignet, solche Arbeit zu leisten: Am 9.8.1910 in Dortmund geboren, gehört er zu jener Generation, die noch vor Ausbruch des 2. Weltkrieges Schule und erstes Studium abschließen und in den Beruf eintreten konnte. Mül­ler studierte von 193033 und 193839 an der TH Braunschweig Pädagogik, Psy­chologie, Soziologie sowie Philosophie und war 193439 in Braunschweig als Volksschullehrer tätig. Gesinnung und Widerstand gegen das nationalsozialisti­sche Denken brachten ihm gleich 1933 zunächst Berufsverbot aus politischen Gründen und durchkreuzten ursprüngli­che Studienpläne. Erst nach Kriegsdienst und Gefangenschaft(193946) konnte er sein Studium nebenberuflich wieder aufnehmen, wurde 1947 bei seinem akad. Lehrer von Bracken zum Dr. rer. nat.

(Hauptfach Psychologie) promoviert, leg­

te 1951 die Diplom-Hauptprüfung ab und spezialisierte sich, nicht zuletzt auf­grund der Erfahrungen in seinem beruf­lichen Arbeitsfeld, auf pädagogisch-psy­chologische Fragestellungen unter be­sonderer Berücksichtigung der Probleme behinderter und benachteiligter Kinder und Jugendlicher.

Unmittelbar nach Kriegsgefangenschaft ging es allerdings zunächst darum, wie­der Fuß zu fassen und sich eine Existenz aufzubauen. Müller wurde Lehrer und Leiter einer einklassigen Landschule, da­nach Hauptlehrer an einem mehrklassi­gen System und schließlich aufgrund seiner fachpraktischen wie auch fach­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 3, 1990

theoretischen Qualifikationen, die er durch ein autodidaktisches Studium der Heil- und Sonderpädagogik erweitert hatte, zum Leiter einer Schule für Ver­haltensgestörte ernannt, dann zum Lei­ter von Sonderklassen für Flüchtlinge und Aussiedler, später für Kinder mit LRS sowie für kranke und rekonvales­zente Kinder und Jugendliche. Gleichzeitig entfaltete Müller eine Reihe von sozialpraktischen und wissenschaft­lichen nebenberuflichen Tätigkeiten als Bewährungshelfer, psychologischer Sach­verständiger, Mitarbeiter in der Erzie­hungsberatung, Dozent an Volkshoch­schulen und Fachschulen sowie Lehr­beauftragter an wiss. Hochschulen. So blieb es auch nicht aus, daß er ab 1962 hauptberuflich in den Hochschuldienst eintrat, in der Lehrerbildung tätig wurde und nach fruchtbaren Jahren akademi­scher Forschung und Lehre 1978 als o. Prof. für Psychologie an der heutigen Uni­versität Dortmund emeritiert wurde. Schon aus den 40er Jahren liegen erste pädagogisch-psychologische Beiträge in Fachzeitschriften und Sammelwerken vor, die sich bis heute zu einer Liste von über 70 Publikationen aufsummiert ha­ben. Sie decken ein weites fachliches Spektrum ab mit schwerpunktmäßig pädagogisch-psychologischen, sonderpäd­agogischen und spezifischen didaktischen Themenstellungen. Besonders erfolgreich unter den Buchveröffentlichungen wur­den die MonographienDie Schule für erziehungsschwierige Kinder und Jugend­liche(2. Aufl. 1970),Ursachen und Behandlung von Lese-Rechtschreibe­Schwächen(3. Aufl. 1972) undVer­haltensstörungen bei Schulkindern(3. Aufl. 1976). Die Schriften weisen den Autor als fachlich kompetenten Wis­senschaftler aus, der es versteht, aus der Praxiserfahrung heraus zu forschen so­wie zu argumentieren und darüber hin­aus auch noch in der Lage ist, verständ­

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