Heft 
(1885) 05
Seite
87
Einzelbild herunterladen

dreien und vieren nur ein einziges Kleid besitzen, das sie der Reihe nach anziehen, Kinder, die schon mehr Gerichtsstrasen als Lebensjahre aufzuzählen haben und die auf jede Frage sei es auch die einfachste unfehlbar mit einer Lüge antworten; er giebt uns Proben aus der Gauner­sprache des Mercato und stellt uns einzeln die merkwürdigsten Typen vor. ^ Im Vorbeigehen sehen wir die große Diebskaserne im Vicolo del fnoco, in der 32 Familien voll Allem entblößt beisammen wohnen, die ümrntlich auf ein besonderes Genre des Stehlens eindressirt sind. Sie aehen des Nachts mit einer langen Schnur, woran ein großer Haken be­festigt, durch die Gassen, und wo sie Wäsch egegenstürrde au den Fenstern hängen sehen, werfen sie diese Schnur sehr geschickt wie einen Lasso hinauf und entfliehen mit der herabgezerrten Beute.

Von da bringt uns Jarro nach der Schule, wo die künftigen Diebe von erprobten Meistern der Prosession herangebildet werden. Die Kinder sind unter den Begabtesten ausgewühlt, haben ihre Prüfungen zu bestehen und erhalten demgemäß ihre Aufträge.

Eines Abends läßt Jarro sich voll einem seiner im Ghetto ansässigen Freunde zu der Unterrichtsstunde der Gauner führen. Mit einem großen schmutzigen Hut, den ihm der Freund aufnöthigt, und mit einem Korb am Arm, über dessen legitimen Besitz Jarro selber Zweifel aufsteigeu, macht er sich auf den Weg.

In einem elenden Wirthszimmer, wo sollst nnr die anrüchigsten Sub­jekte ^nit ihren Dirnen sich versammeln, sieht er vier Kinder zwischen

neun und dreizehn Jahren

Ihr Lehrer, so erzählt Jarro, hatte ne daraus aufmerksam gemacht, daß ein Bauer in das Zimmer kommen werde, mit einem Bündel in der Hand und einem Portemonnaie in der Tasche. Also ausgepaßt!

Der Gast kam mit dem Bündel, das er neben sich aus die Bank legte. Er war selbst ein Dieb und einer voll den erfahrensten, aber er war so aut verkleidet und kam mit so harmloser Bauernmieue herein, daß ihn die Kinder nicht erkannteil. Der Bauer setzt sich, der Lehrer tritt auf ihn zu und knüpft ein Gespräch all. Der Bauer ladet ihn All einem Glas Wein ein, der Andere setzt sich gleichfalls, giebt aber den Knaben einen Wink. Die Kinder drängen sich nun um den vermeintlichen Bauer, als wollten sie Späße mit ihm treiben. Ich sah, wie Einer ihm das Portemonnaie herauszog, wie der zweite das Bündel nahm, die zwei Anderen empfingen die gestohlenen Gegenstände und warfen sie neben unser Versteck, wo mein Führer vor dingst zitterte.

Wir gingell sogleich, ich hatte genug.Der vermeintliche Bauer, so erklärte nur mein Führer unterwegs,hat sich still Verhalten, weil ihn die Kinder gut bestohlen haben. Das Portemonnaie, das sie hierher warfen, ist leer und ich kann Ihnen sagen, daß es vielleicht erst heilte Morgen zu diesem Zweck gestohlen worden ist."

Wundersam sind die Erinnerungen eines andern seiner Freunde, die ich noch der Merkwürdigkeit wegen hierher setzen will, obgleich sie nicht auf dem Mercato spielen.

Der alte G. war in seiner Jugend Briefträger zwischen Florenz und Pontasieva. Eines Nachts wurde er unterwegs von unbekannten Strolchen aufgegriffen und durch Drohungen genöthigt, in Gemeinschaft mit ihnen iu einer benachbarten Kirche einzubrechen und die Leiche eines kürzlich Bestatteten zu berauben. Als er seinen Gefährten Schmuck und Kleider des Todten heranfgereicht hatte und wieder aus dem Grabe steigen wollte, stießen ihn die Strolche zurück und nach einem verzweifelten Ringen wurde die Gruft über ihm geschlossen.

Kaum hatte er Zeit gehabt, sich über seine furchtbare Lage klar zu werden, als er schon wieder Schritte über seinem Kopfe hörte, der Stein wurde aufgehoben, und ein Individuum stieg in die Gruft herab, offenbar ebenfalls in der Absicht die Leiche zu plündern, bat aber gleich die Ge­fährten, ihm eine Prise Tabak zu reichen wegen des unerträglichen Geruchs.

Da sprang unser G. auf die Füße und forderte mit hohler Stimme gleichfalls eine Prise. Von Schreck gepackt rannten die Diebe davon und G. konnte sich retten.

Unverschuldetes Elend hat den Unglücklichen später ebenfalls in das Grab der Lebendigen, nach dem Mercato Vecchio, gebracht.

Die Feder sträubt sich, all das Elend und die Gräuel nachznerzühlen, die in diesem Büchlein verzeichnet stehen. Wir wollen weder in die unterirdischen, von Feuchtigkeit triefenden Höhlen treten, wohin die Gossen abträufeln, wo sieben bis acht Personen aus einer Lagerstätte beisammen liegen, wo Morgens Kinder todt gefunden werden, von den Großen im Schlaf er­drückt, noch wollen wir hinter die Treppen kriechen, wo in einein Raum von weniger! Metern mehrere Schlafstellen zürn Vermiethen aufgeschlagen sind, noch in die vermauerten Winkel, wo menschliche Gerippe ansgegraben

werden. Aber ich kann es mir nicht Versager:, noch einige der merk­würdigsten Typen dieser unbekannten Welt hierher zu stellen.

Hier ist z. B. das Exemplar eines Hehlers:Er geht immer schwarz gekleidet, im Cylinder, sucht jeden Anlaß, um auf der Straße Jemand zu grüßen und zu thun, als habe er vornehme Bekanntschaften. Zuweilen zieht er den Hut ab, wenn ein Herrschaftswagen vorüberfährt, und schneidet seine unterthänigsten und auffallendster: Kratzfüße. Die so Gegrüßter! geben den Gruß zurück und fragen sich, wer wohl dieser cerernorriöse Patron sein möge. Er ist glatt, rothwarrgig, wohlgenährt. Er geht viel in die Kirche, legt sein Sacktuch unter die Kniee, zieht den Rosenkranz hervor dieser Fromme ist ausgezeichnet in der Herstellung falscher Schlüssel."

Die Hehler üben gewöhnlich eine bürgerliche Profession aus, aber der Kramladen, die Werkstatt sind nur Aushängeschilde. Ihre eigentlichen Geschäfte machen sie mit den Dieben, die in ihren Diensten stehen und denen sie das sauer erworbene Stück Brot schmälern. Denn der Dieb ist meist so arm wie eine Kirchenmaus, während der Hehler immer reich wird.

Ein anderer eigenthürnlicher Typus ist der Spion, der übrigens selten vorkornrnt. Diese verwahrloste Gesellschaft hat auch ihren Ehrenpurrkt. Stehlen, besonders mit Geschick und straflos, ist rühmlich. Wer schon zehn bis zwanzig Mal im Gefängniß gesessen, genießt hohes Ansehen, wer gar in so und so viel Processen freigesprochen worden, steht ans der obersten Sprosse ihrer Hierarchie. Aber den Dieb, den Gefährten des Geldes wegen Verratherr, gilt für schmachvoll. Wenn es doch vorkornrnt, geschieht ^ es arrs Rache oder Eifersucht.

Eirr gewisser E. war ein berühmter Spion. Jahrelang war er einer der durchtriebensten Diebe gewesen, aber eines Tages hatte er sich von den Seinigen losgesagt und sich in den Dienst der Polizei begeben. Er ^ kleidete sich mit einem gewissen Pomp, ging nur im Cylinder, aber er­stand irr tiefster Verachtung und wurde tödlich gehaßt.

Wenn gewisse Geschäftsleute, bei denen das niedere Volk einkauft, einen Hut, eine Kravatte oder dergleichen aus der Mode bringen wollten, so ließen sie den E. rufen und schenkten ihm den betreffenden Gegenstand. Wer nun ein ähnliches Stück besaß, warf es alsbald weg, kam in den Laden und kaufte sich ein anderes.

E. besaß einen unerschütterlichen Mrtth. Die Polizei bat ihn stets zu sagen, was er wisse, aber sich nicht auszusetzen. Es war jedoch alles ver­gebens. Er wollte urrr jeden Preis die Patrouillen begleiten, es war seine Passion, die Vergehen seiner früheren Kameraden aufzudeckerr, mit der Polizei in ihre Höhlen eirrzudrirrgen, sich zuerst der Gefahr cntgegeirzustürzen und die Gauner bei der Brust zu packe::, die er sonst umarmt hatte. Die Rache, welche die Polizei fürchtete, ließ nicht lange aus sich warten. Eines Tages wurde er bei Hellern Sonnenlicht in einer der belebtesten Straßen von Florenz erdolcht. Aber er starb zufrieden, nachdem er seinen Mörder angezeigt, froh, daß sein Tod wenigstens einer: seiner ehemaligen Genossen ins Zuchthaus brachte.

Wir sind am Ziele unserer Wanderung. Aus den Höhlen des Ghetto heraus führt uns ein einziger Schritt irr die breite elegante Via de Cerretani, und über die Katakomben des unterirdischen Florenz hinweg sehen wir, ober: im lichten Sonnenschein zwischen den Ständen der Blurnerrverkäufer durch, die Herrschaftswagen zurr: Corso donnern. Da liegen sie hinter uns irr ihrer Bettlermajestät, die zerbröckelten Paläste, Thürrne und Kirchen des Mercato, und wir wissen jetzt, warum keine Fürbitte der Kunstkenner ihnen ihr historisches Dasein mehr fristen kann.

Ein schweres Stück Arbeit mag es werden, diese nächtliche Welt aus ihren Verstecken heraus zu treiben. Haben wir doch vor Kurzen: gesehen, wie verzweifelt die Besitzer der alten Buden des Mercato sich wehrten, als sie bei Niederreißurrg der Beccheria expropriirt wurden, bis es der bewaffrreten Macht gelang, sie mit Gewalt nach der neuen eleganten Markt­halle irr Via delllAriento zu versetzen.

Ganz Florenz aber sieht diesen: Tag mit Spannung entgegen. Die ^ Gelehrter: erwarten vor: der Dernolirung des Mercato die wichtigster: topographischer: Aufschlüsse und hoffe:: mit Bestimmtheit, unter der Erde die Grundmauern des alten Kapitols und vielleicht unschätzbare Kunstwerke ! aus der Römerzeit zr: finden. Das Volk dagegen glaubt, daß in den ge­heimen Gängen des Ghetto die Schätze der Juden arrs den Zeiten ihrer Unterdrücknng vergraben liegen.

Dann wird an die Stelle des alter: Mercato ein weiter luftiger Platz mit bequemen Häusern und Säulengängen treten, von breiten schnur­geraden Straßen durchzogen, die denmodernen Erfordernissen" ent- ! sprechen, eirr Platz, auf dem Schutzmann und Spazzaturajo * herrschen, reinlich, sicher aber langweilig. Isolde Kurz.

WLAtter und WMLHen.

Auf dem Grse. (Mit Illustration S. 76 und 77.) Parkettboden und Eisbahn sind wahlverwandte Dinge und identische Begriffe, wenigstens in den Anger: eines gewisser: Alters. Beide sind der fröhlichen Jugend unentbehrlich in einem regelrecht genießbarer: Winter, denn wie sollten sich wohl all die jungen, ungestüm pochenden Herzen zusarnrnen- finderr, wenn nicht auf jenem glatter: blanker: Boden, auf dem es sich so graziös gleiten und tändeln läßt, und wo die Blicke und Herzen so leicht­beschwingt sind wie Schmetterlinge über dem Blumenbeete. Sellskoloniale" Hitze, sells Nordpolkälte, auf diesem Boden gedeiht das Pflünzlein Liebe stets wohlgemuth und entfaltet sich zu fröhlicher Blüthe. Und welch herrliche Schnippchen werden nicht all der: argwöhnischer:Eis­müttern" geschlagen, dieser: beklagerrswerthesten aller Mütter! Hier

maskirt die Schlittschuhbefestigung der: Fußfall des liebeglühenden Jünglings,

dort befördert die anscheinende Furcht vor einerCararnbolage" die zündenden Blicke der Verliebten, hier verbirgt dashelfende" Führen der Unsicheren der: beredter: Händedruck und dort gar fällt man plötzlich nieder, um sich von zärtlichen Armen wieder aufrichter: zr: lassen. Doch Verratherr wir nicht zr: viel, um der: glatter: Boder: nicht in Mißkredit zu bringen nnd Jener: keine Verlegenheiten zu bereiten, die in heiterer Lust sich darauf bewegen. Man soll nichtaus der Schule plaudern", und es thut nicht gut, der Jugend das Spiel zu verderben!-r.

Ghkorrs. (Mit Illustration S. 81.) In einer Lenznacht erblickte Zephyr die schöne Chloris, wie sie lieblich und träumerisch aus ihres Vuters Hallen ins Freie getreten war. Der Gott hob sie zu sich empor, verlieh ihr als Morgengabe die Herrschaft über das Reich der Blumen und gewährte ihr,