Heft 
(2023) 115
Seite
14
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14 Fontane Blätter 115 Unveröffentlichtes und wenig Bekanntes die Völker wirkt wie die Phrase, die abwechselnd national sich spreizt, von Gerechtigkeit dröhnt und Beglückung verspricht. Die Völker wer­den damit gefüttert, und unbelehrbar nehmen sie alle dieses Gift. Wolff sieht Fontanes gesellschaftspolitische Lotsenrolle nicht in der eines Parteimenschen, sondern eines überparteilichen Mentors, dessen ganz ei­genständige skeptisch-kritische Grundhaltung einer politisch absichtsvol­len propagandistischen Dauerberieselung und Stimmungsmache die Stirn bietet: Es muß eine der höchsten Aufgaben sein, das deutsche Volk zu einem Fontaneschen Mißtrauen gegen die falschen Töne und Gefühle und zu strenger Betrachtung der Tatsachen zu erziehen. Ob es gelingen wird, bleibt eine Frage, denn viele Jahrzehnte lang sind die Geister umnebelt und verbogen worden, neue Propheten kommen mit neuer Klimperware, und von der Stunde, wo ernster Wahrheitssinn Allgemeingut werden könnte, sind wir noch weit entfernt. Aber es muß versucht werden, und in dem Willen dazu sollten alle, die wirklich von Theodor Fontane wis­sen, die Sprache seiner hellen Augen oder seiner Bücher entzückt ver­standen haben, seinen hundertsten Geburtstag begehen. So Theodor Wolffs letzte öffentliche Worte über Fontane Hoffnungen und Wünsche, die sich bekanntlich nicht erfüllen sollten und die heute, 103 Jah­re später, im Schatten einer theatralisch verkündeten ›Zeitenwende‹, von trauriger Aktualität sind. Frau Jenny Treibel als Berlin -Roman »Liebend verehrt habe ich Theodor Fontane «, bekennt Wolff in seinen 21 Jahre später geschriebenen Erinnerungen und schwärmt rückblickend von einem Menschen, den man vom Autor und seinem Werk gar nicht zu trennen vermochte:»Er war ganz so, wie man ihn in seinen Dichtungen empfindet, eine größere Einheit von Persönlichkeit und schriftstellerischer Schöpfung ist nicht denkbar«. 28 Diese Empfindung Wolffs kommt vielleicht nirgendwo lebendiger zum Ausdruck, als in der jüngst aufgefundenen Re­zension von Frau Jenny Treibel. Sie erschien in der Morgenausgabe des Berliner Tageblatts vom 9. November 1892 und eröffnete den Reigen der Besprechungen des Buches. 29 Keine der Fontane-Rezensionen Wolffs ist so temperamentvoll, so impulsiv, keine so persönlich gehalten, keine schließt den Menschen Fontane so lebhaft in die kritische Würdigung eines Werkes ein. Diese subjektiven Töne unterscheiden Wolffs Beitrag deutlich vom Gros der anderen, gleichfalls überwiegend positiven Besprechungen des Romans. 30 Es ist unverkennbar, dass dieses Buch einen ganz besonderen Nerv Wolffs traf. Als Spross der Berliner Bourgeoisie kannte er das Milieu der