Heft 
(2023) 115
Seite
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Theodor Wolff über Theodor Fontane  Rasch 23 Alle diese Fontaneschen Figuren wurzeln im alten Berlinerthum. Sie stam­men aus berlinischen Geschlechtern und treten nun mit diesem ererbten Berlinerblut in die neue Zeit ein, von der Berlin eines Tages überrascht wor­den ist. Fontane kennt den Werdegang. Die Jüngeren kennen ihn nicht. Sie kennen nur das neue Berlin , die Millionstadt, das Berlin nach der Umwäl­zung. Sie zeigen einfach den Großstädter, den Arbeiter oder Gesellschafts­menschen, indem sie behaupten, Berlin sei jetzt eine internationale Stadt und die berlinischen Farben und Umrisse seien verwischt oder sie versu­chen es in der Fontaneschen Art und fallen damit ab, weil sie den Zusam­menhang zwischen dem Einst und Jetzt nicht kennen. Dann ein Zweites keine Aeußerlichkeit: Fontanes Herz. Wenn ein ge­heimer Zusammenhang zwischen Augen und Herz bestehen und das»mit dem Herzen sehen« möglich sein sollte, dann muß es hier Wirklichkeit ge­worden sein. Fontane, der Dichter, sieht mit seinem guten Herzen. Und nun das Dritte, das Fontane, den Künstler betrifft. Welch Unter­schied auch hier zwischen ihm und den Anderen! Wenn diese Anderen eine Straße, ein Haus, ein Zimmer oder einen Menschen schildern wollen, so set­zen sie eine Reihe von Beobachtungen neben einander. Sie häufen Kleinig­keiten, um ein großes Bild zu bekommen. So arbeiten Alle, selbst die Besten z. B. H u y s m a n s, den ich nach Zola für den talentvollsten Ausbilder die­ses Stils halten möchte. Aber Fontane verfährt anders, weniger absichtlich und darum viel künstlerischer. Nirgends das aufdringliche:»ich w i l l schil­dern«, nirgends das arrogante»ich b i n Realist« im Werke selbst wird uns Alles beigebracht, und was bei den Anderen aufgesetzter Zierrath ist, das liegt hier im Holz selbst und ist aus dem Material herausgearbeitet. Diese dreifache Sonderstellung, als Berliner , als Dichter und als Künst­ler, macht Fontane so werth. Und dann noch ein Viertes: die große, freie Vorurtheilslosigkeit! Immer ist er mir wie einer von jenen alten, ausgestorbenen Grandseig­neurs erschienen, von denen man bisweilen in Memoirenwerken in fran­ zösischen besonders liest. Er hat Vieles von ihnen, bis auf ihre kleinen Ei­genheiten hinab, bis auf diese gewisse Vorliebe für einen, an Fridericianische Zeiten erinnernden Schnörkelreichthum der Sprache. Ganz besonders aber hat er den freien Blick, der über Parteien und Ländergrenzen hinwegsieht, den Weltbürgerblick der Wahrhaft-Vornehmen. Ich habe das tief und überzeugend empfunden, als ich vor ein paar Ta­gen»Kriegsgefangen« wieder las, die Schilderung seiner Gefangenschaft in Frankreich im Jahre 1870. Wer trotz ausgestandener Leiden so frei, so vornehm urtheilt, hat alles Anrecht auf den Ehrentitel des Weltbürgers. Wunderbar ist es gewiß nicht, wenn die Klügeren unter den Franzosen jetzt dieses Buch mit Andacht lesen. Hätten wir mehr solcher Bücher und mehr solcher Schriftsteller, der große Traum vom Völkerfrühling wäre vielleicht