Fontanes Briefe an Theodor Wolff Möller 41 [5.] Am 15. Mai 1892 erschien Wolffs Essay Untergrund-Litteratur im Berliner Tageblatt, eine Besprechung von zwei Büchern, kunstvoll eingebettet in die Beschreibung einer Begegnung mit Fontane. Bei einem zufälligen Treffen am Schöneberger Ufer habe Fontane Wolff gefragt:»Glauben Sie nicht auch [...] daß es neben oder gewissermaßen unter unserer allgemein anerkannten Litteratur[...] noch eine ganze Litteratur giebt, die eigentlich Niemand kennt und die doch gekannt zu werden verdiente – man könnte sagen: ›eine Untergrundlitteratur –?‹« 30 Beide hätten einander von der Entdeckung eines unbekannten Dichters berichtet und die Bücher am nächsten Tag ausgetauscht. Fontane lieh Wolff Heinrich Schirmachers Roman Herr Baumeister. Eine nachgelassene Schrift, Wolff übergab Fontane Karl Spittelers Gustav. Ein Idyll. Am 14. Mai 1892 schickte Fontane das Exemplar von Spittelers Gustav an Wolff zurück und erklärte, er habe beide Bücher gelesen, auch bereits einen Entwurf darüber verfasst, den er Wolff aus dem Urlaub zukommen lassen werde. Das zweite Buch, das hier als bewältigte Lektüre erwähnt wird, war, wie man dem weiteren Verlauf der Korrespondenz entnehmen kann, Wolffs Roman Der Untergang, der im Herbst erscheinen sollte 31 und den Wolff Fontane ebenfalls hatte zukommen lassen, wahrscheinlich in der Hoffnung auf eine Gefälligkeitsrezension. [6.] Nach dem Erscheinen von Wolffs Beitrag im Berliner Tageblatt bedankte sich Fontane am 17. Mai für das»hübsche Feuilleton« und teilte Wolff mit, er habe den Text noch am Sonntag(15. Mai) an den befreundeten Architekten Karl Emil Otto Fritsch gelangen lassen, der ihn an Schirmacher weiterleiten werde. Anna Fritsch-Köhne, der zweiten Frau Fritschs, die Fontane nach der Lektüre von Wolffs Essay offenbar»viel Liebenswürdiges und Schmeichelhaftes« geschrieben hatte, antwortete Fontane am 18. Mai:»Die Kritik im Tageblatt ist ein bischen sehr dünn und unbedeutend, Feuilletonredensarten, kein Herzschlag dahinter; aber es ist doch guter Willen und – Lob. Und für die Meisten(oft auch die Klugen) ist das die Hauptsache.« 32 Das bezog sich auf die Ausführungen Wolffs über Schirmacher. [7.] Wie man einem weiteren Brief entnehmen kann, war das Exemplar von Schirmachers Roman Ein Baumeister, das Fontane Wolff für einige Zeit überlassen hatte, ursprünglich eine Leihgabe von Anna Fritsch-Köhne. 33 Trotzdem hatte Fontane offenbar keine Bedenken, darin Kommentare in Form von Randglossen zu hinterlassen, Wolff hatte an einer Stelle ein»neiderweckend´ Lobwort« 34 registriert. Tatsächlich rekapitulierte Fontane bald nach seiner Ankunft in der Sommerfrische seine Lektüreresultate. Sein kritisches Urteil über Wolffs Untergang ist bemerkenswert, weil Wolff einen
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(2023) 115
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41
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