Heft 
(2023) 115
Seite
105
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Entzweite Moderne, durchschaute Ambivalenz  Rottmann 105 bewusst vollzogenen Beobachtungen in typologisch nachkonstruierte, lite­rarisch gestaltete Denk-, Sprach- und Handlungsmuster begründen. Diese Muster gehen diskret in die Eigenschaften und Handlungsentwürfe sowie in die Figurenrede des literarischen Personals ein. Markante Ereignisse, an denen die Figuren nur selten unmittelbar als Entscheidungsträger betei­ligt sind, vollziehen sich ebenso diskret im Hintergrund(Politik, Mobilität, Kommunikation, Ökonomie, Kultur), brechen aber kontinuierlich in ihre ›Lebenswirklichkeiten‹ ein(»Hereinbruch des Bankrutts«,»Anlegung einer Straße« 4 ) und zeitigen dort, im Privaten, Handlungsdruck. Sie produzieren Identitätskonflikte. Sie konfrontieren die brüchige und partiell überholte, doch als Garantin für Stabilität emotional vielfältig konservierte ›alte Ord­nung‹ mit jener ›neuen Unordnung‹, durch die allerdings auch politische und ökonomische Möglichkeiten sowie soziale Chancen für einen Teil des literarischen Personals entstehen; die aber auch für Verirrung, Orientie­rungslosigkeit und Verlustangst verantwortlich zeichnet. So ist, fast schon penetrant, Krise garantiert. In Krisen werden Muster der Bewältigung produziert, die ambivalente Beurteilungen von Personen und Dingen enthalten. Solche Beurteilungen können auch unter veränder­ten Bedingungen fortexistieren. Private Quisquilien repräsentieren oder spiegeln das Gesamte, auch gesellschaftlich Ganze, pars pro toto:»Die Welt ist eine Welt der Gegensätze, draußen und drinnen, und wohin das Auge fällt, überall Licht und Schatten« 5 , erklärt Robert von Leslie-Gordon in Cé­cilie, und er könnte sich hierüber fraglos mit Botho von Rienäcker oder dem Grafen Petöfy ins Benehmen setzen, wie auch Lisette von Perbandt und Ebba von Rosenberg dauernd mit ›Widersprüchen‹ umzugehen haben und diese zumindest aussprechen, wenn auch nicht unbedingt erklären können. Spuren dieser Erfahrungen, Muster und Strategien ihrer Bewältigung fin­den sich in allen Romanen Fontanes; so beschrieben, leuchtet es durchaus ein, von literarisch modellierten Ambivalenzen in Fontanes Erzählwerk zu sprechen. 2. Durchschaute Ambivalenz Obgleich die Notwendigkeit besteht, die variablen Inhalte und Pragmatiken des mit der Vokabel ›Ambivalenz‹ Gemeinten einmal kritisch zu untersu­chen, soll im Folgenden gezeigt werden, dass Konzepte von Ambivalenz zur literaturwissenschaftlichen Analyse beitragen können. Auch wenn Fontane selbst den psychoanalytischen, 1910 von Ernst Bleuler erfundenen Grund­begriff nicht mehr kennenlernen konnte, so kannte und erkannte er den­noch das damit umschriebene Phänomen; und er hat einen eigenen Begriff dafür gefunden:»Confusion«(F I, 200, 202, 226). Fontanes Semantik ist Ausdruck seiner intellektuellen und schriftstellerischen Souveränität. Er