Heft 
(2023) 115
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Entzweite Moderne, durchschaute Ambivalenz  Rottmann 115 und zu der kuriosen oder bitteren Einschätzung führt, der Adel müsse sich vom Judentum»emancipiren«. Die Bedeutung der ›Rassenfrage‹ soll den Konflikt bestätigen, doch scheinen sich die Einschätzungen der Baro­nin und des Barons an diesem Punkt voneinander zu unterscheiden. Der Baronin ist die ›Reinheit‹ ihrer Rasse ungeheuer wichtig(»wie hoch ich Ab­stammung stelle«). In der oben zitierten Disposition notierte sich Fontane einen Begriff, der Ursache und Wirkung zusammenhält:»crêve coeur«. Ei­nerseits lässt sich»crêve coeur« mit ›Kummer‹ oder ›tiefem Leid‹ überset­zen, bezeichnet also die emotionale Reaktion der Baronin auf die Heirats­pläne ihres Sohnes. Zugleich ist»crêve coeur« der Name der ältesten, reinsten und deshalb wertvollsten Haushuhnrasse Frankreichs. Die Baro­nin soll»an gedemüthigtem| Hochmuth« sterben, denn sie ›hat‹»crêve coeur«, weil ihr»crêve coeur« nicht erhalten bleibt. Das tödliche Dilemma ergibt sich außerdem aus der Konstruktion, dass zur Vermeidung jener »Donquichoterie« nur»Mittel« der»Judenwelt« in Frage kommen. Wie die zweite Disposition nahelegt, fällt die Haltung des Barons in dieser Frage ambivalenter aus. Storch adressiert einerseits Klage, andererseits Freude; er soll ferner situativ dazu neigen, die» Glaubensfrage« als Unterschei­dungsmerkmal im Fall der Taufe zu relativieren und hält dennoch an einer Fixierbarkeit von ›Rassenunterschieden‹ fest. Fontane hat in Adel und Judenthum über prinzipielle Unterschiede zwi­schen beiden Gruppen nachgedacht, wobei er an diesem Punkt nicht die biologistische Kategorie der Rasse bemühte, sondern eher milieuspezifi­sche Differenzen zu benennen suchte. Allerdings scheint sein Versuch dar­auf hinauszulaufen, die»jüdische jetzt dominirende­ Gesellschaft« prinzi­piell von der Aristokratie unterscheidbar zu machen, und zwar, hierauf kommt es an, nach den Ansprüchen der ›neuen Zeit‹(F I, 423). Auffällig ist, dass die»jüdische[] Gesellschaft« den alten Adel nach Maßgabe ›zeitge­mäßer‹ Kriterien mühelos überbietet(Geschmack, Weltläufigkeit, Kunst und Wissenschaft), jedoch darunter leide, die dem Adel ›natürlich gegebe­ne‹ historische Verwobenheit mit dem»Staat«, ungeachtet aller ›neuen‹ Ver­dienste, nicht ausgleichen zu können: Es haftet ihr etwas von der Aengstlichkeit und Unsicherheit des Parve­nus an, das Gefühl bedrückt sie bis in ängstliche Höhen hinaufgewach­sen zu sein, dazu fehlt das Zusammengewachsen-sein mit dem| Staat in dem sie leben, dessen Schlachten sie nicht geschlagen, dessen Gesetze sie nicht geschaffen haben. Das Gefühl einer kaum losgewordenen Paria­schaft verläßt sie nicht[]. Das Vollmaß der Erscheinung fehlt noch und an die Stelle kräftigen Renommirtons ist eine stille lächelnde Eitelkeit und Selbstbespiegelung und Schönfinderei getreten.(F I, 423) Bei diesem Versuch einer sozialpsychologischen Analyse fallen nicht nur die berühmten Stichworte»Parvenu« und»Paria« auf, sondern zwei eigen­willige Differenzen: Juden fehle»das Zusammengewachsen-sein mit dem|