Heft 
(2023) 116
Seite
53
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Kriegsgefangen in der Übersetzung von Jean Thorel  Anke 53 1902 die erste französische Übersetzung von Effi Briest vorlegte: Kürzun­gen, raffende Nacherzählungen und Aussparungen spezifisch preußischer Elemente rechtfertigte er mit dem zuletzt gescheiterten Ziel, der französi­ schen Effi im Nachbarland zum Erfolg zu verhelfen. 15 Dass sich die kulturel­len Spannungen der deutsch -französischen Beziehungen dieser Zeit auch in den Übersetzungen abzeichnen, macht jene zu aufschlussreichen histori­schen Dokumenten. Dies gilt insbesondere für Kriegsgefangen; das französische Presseecho zeigt, dass dessen historisch maximal aufgeladene Thematik die unter­schwelligen nationalen Spannungen auch 1892, mehr als zwanzig Jahre nach dem deutsch -französischen Krieg, reaktiviert. Der von Fontane als »etwas abweichend« bezeichnete, aber vor allem sperrige Titel Souvenirs dun prisonnier de guerre allemand en 1870: Erinnerungen eines deutschen Kriegsgefangenen im Jahre 1870 verortet die Erzählung gleich doppelt. In­dem der neue Titel sie plakativ der Memoirengattung zuordnet, übersetzt er ungewollt auch die zeitliche Distanz zum Geschehen mit, welche»Erlebtes« nach über zwanzig Jahren zu»Erinnerungen« verblassen lässt. Dazu geht aus den zeitgenössischen französischen Presserezensionen hervor, dass die Rezeption der Souvenirs weniger von ästhetischen als von ideologischen Faktoren gelenkt wurde, die sich insbesondere in Fontanes französischer Abstammung verdichteten. Trotz des autobiographischen Gehalts lässt sich Kriegsgefangen jedoch nicht auf ein Kriegstagebuch reduzieren, da Fontane die Unmittelbarkeit seiner Erlebnisse poetisch verarbeitet und sie zu einer ästhetisch anspruchsvollen Erzählung stilisiert. Rein äußerlich zeigt sich dies an ausgewiesenen intertextuellen Bezügen in Form literari­scher Motti, die Fontane jedem Kapitel vorangestellt hat. Die Zitate signali­sieren, dass er mit Kriegsgefangen an einen literarischen Kanon anknüpft, der sich aus Klassikern wie Goethe, Schiller oder Shakespeare und zeitge­nössischen Autoren wie Storm, Lepel, Platen, Lenau oder Droste-Hülshoff zusammensetzt. Ein Großteil dieser ästhetischen Dimension geht in der Übersetzung jedoch verloren: Die Revue Bleue druckte einzig das Hamlet­Zitat zu Beginn des 5. Kapitels ab, keines der anderen Motti wurde in der Buchfassung übernommen. Aber auch innerhalb der Kapitel wurden Fon­tanes explizite oder implizite intertextuelle Anspielungen undeutlich ge­macht oder sogar ganz gestrichen, was dazu beitrug, die künstlerische Komposition des Werks zu unterlaufen. Der Verzicht auf die Zitate steht bei­spielhaft für Thorels Tendenz, sprachliche und kulturelle Differenzen un­sichtbar zu machen. Im Hinblick auf den Publikationskontext und das bri­sante Thema erweist sich die Übersetzung aber erstaunlich inhaltstreu und zeugt zudem von sehr guter Sprachkenntnis; umso mehr stechen plötzliche Veränderungen in Form von Hinzufügungen, Kürzungen oder gar größe­ren Auslassungen ins Auge. 16