Kriegsgefangen in der Übersetzung von Jean Thorel Anke 57 1870 beherrscht. Auch Fontanes Kriegsgefangen wirft ein vielsagendes Licht auf jene kulturellen Konfliktlinien, die sich allerdings erst im Spiegel der Übersetzung offenbaren. Eine Untersuchung von Thorels Übersetzung drängt sich nicht nur wegen der polarisierenden Thematik des Bandes auf, sondern auch, weil Fontane gerade in Kriegsgefangen auf die Überwindung kultureller Stereotypen und ideologischer Grenzen zielt. Anhand sprachlicher, geografischer und kultureller Aspekte soll nun untersucht werden, wie und ob Thorel die Alterität des Ausgangstextes berücksichtigt und in welchem Verhältnis das Eigene zum Fremden steht. Auf sprachlicher Ebene steht Thorel vor derselben Herausforderung wie alle anderen französischen Übersetzer Fontanes nach ihm. Wie lassen sich die französischen, d. h. fremden Spracheinflüsse in einer französischen Übersetzung hervorheben? Im Falle von Kriegsgefangen scheint dies keine Hürde zu sein, ja die französischen Wörter kommen dem Übersetzer womöglich sogar gelegen: Was zuvor noch als fremdsprachlicher Einfluss hervorsticht, wird unvermeidlich und ohne weitere Kennzeichnung ins Französische eingeschmolzen, womit»volens nolens die Grenzen einer homogenen Sprachgemeinschaft konsolidiert« 21 werden. Der allgemeine Umgang mit dem Fremdwort kann anhand einer Textstelle im Kapitel»Guéret « sogar metaphorisch aufgezeigt werden. Im dortigen Gefängnis sorgen Fontanes Papiere bei der französischen Administration für»völlige Verwirrung«. Zur Veranschaulichung greift Fontane auf seine vergangene Apothekererfahrung zurück: Die ganze Szene erinnerte mich lebhaft an die Vorgänge, die sich in kleinen Badeörtern mit Filialapotheken regelmäßig zu wiederholen pflegen, wenn Lehrling, Gehilfe, Prinzipal das aus der großen Stadt kommende Rezept nicht entziffern, das neueste Modemittel nicht erraten können und nach langem Getuschel und Aufwand einiger Fremdwörter endlich erklären: ein solcher Arzneikörper existiere nicht.(F 105 ) Von den»Fremdwörtern« bleibt in der Übersetzung keine Spur – solche Fremdkörper, so scheint es, existieren gar nicht: Après avoir longuement et mystérieusement conféré pour tâcher de s’expliquer quel peut bien être ce nouveau remède à la mode qu’on leur demande, ils finissent par déclarer que ce médicament n’existe pas.(T 116) Das»lange Getuschel« verteilt Thorel auf die beiden Adverbien»longuement« und»mystérieusement«, wodurch das tuschelnde Apothekenpersonal nicht mehr auf Fremdwörter rekurriert, sondern sich»lange« und auf »geheimnisvolle« Weise untereinander berät. Erneut hat die Szene im Spiegel ihrer Übersetzung nahezu metasprachlichen Charakter: Ist es mit dem mysteriösen Fremdwort zu viel des Aufwands und der Geheimniskrämerei? An Gelegenheiten, die Mehrsprachigkeit an anderen Textstellen kompensierend wiederherzustellen, fehlt es eigentlich nicht. Spezifisch deutsche Begriffe stellt Thorel aber meist nicht in ihrer fremdsprachlichen
Heft  
(2023) 116
Seite
57
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