Heft 
(2023) 116
Seite
59
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Kriegsgefangen in der Übersetzung von Jean Thorel  Anke 59 ­ersetzt. 22 Ebenso fehlt in der Übersetzung des Kapitels»Rückblicke« ein ­ganzer Abschnitt, 23 in dem Fontane den Bildungsstand verschiedener euro­päischer Länder(England, Schottland , Dänemark und Frankreich ) ver­gleicht und bemerkt,»daß die Bewohner anderer Kulturländer, besonders der westlichen, nicht schlechter lesen als die Menschen bei uns.«(F 69) Von diesen Beobachtungen bleibt in der Übersetzung einzig das zusammenfas­sende Motto»hinterm Berge wohnen auch Leute«(F 69) übrig, dessen resü­mierende Funktion im Französischen vollends ausgeschöpft wird. Erneut ist diese Stelle exemplarisch für eine Übersetzung, die dem Leser Fremdkultu­relles im wörtlichen Sinne verbirgt und die man in Anlehnung an Antoine Bermans kulturwissenschaftliche Theorie der Übersetzung als ethnozen­trisch bezeichnen kann. Grundlage dieser Übersetzungsethik bildete Fried­rich Schleiermachers Abhandlung Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens, die Antoine Berman 1895 erstmals ins Französische übersetz­te. Schleiermacher unterscheidet darin zwei Arten des Übersetzens:»Ent­weder der Übersetzer lässt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er lässt den Leser möglichst in Ruhe und be­wegt den Schriftsteller ihm entgegen.« 24 Antoine Berman vertieft Schleier­machers Theorie der Beziehung zwischen dem Leser und dem fremdsprach­lichen Autor und rückt sie ins Zentrum einer ethischen Überlegung zur Dialektik des Eigenen und des Fremden. 25 Ethnozentrisch ist eine Überset­zung laut Berman und im Wortlaut Schleiermachers, wenn sie den Leser möglichst in Ruhe lässt und den Schriftsteller auf ihn zubewegt, d. h., wenn sie kulturelle Differenzen unsichtbar macht und die Alterität des Textes durch Anpassung an nationale Normen und Werte nicht in ihrer fremdkul­turellen Identität, sondern lediglich als Negativ des Eigenen darstellt. Folg­lich besteht die ethische Aufgabe des Übersetzenden nicht nur darin, zwi­schen Sprachen und Kulturen zu vermitteln, sondern auch, sich selbst in der Vermittlerrolle sichtbar zu machen. Die»Spannung zwischen dargestellter Identität und Nicht-Identität der Kulturen« leitet sich nämlich aus der »ethische[n] Bedeutsamkeit der Spannung zwischen Sichtbarkeit und Un­sichtbarkeit des Übersetzers« 26 ab, wobei Thorels eigene Unsichtbarkeit auch auf die assimilierende Tendenz seiner Übersetzung schließen lässt. Dieser ethnozentrische Ansatz lässt sich zuletzt auch am Umgang mit kul­turspezifischen Elementen ablesen, sei es auf der mikrostrukturellen Ebene eines Satzes bzw. Satzteils 27 oder anhand umfangreicherer Textstellen. So ist zum Beispiel der»türkisch geblümte Schal«(F 96) eines Mitgefangenen in der Übersetzung als»cache-nez à fleurs« lediglich»geblümt«(»à fleurs«), wobei der französische Überwurf(»cache-nez«) die Orientmotivik des Schals buch­stäblich kaschiert. Ähnlich bastelt der Übersetzer auch eine andere, grotesk anmutende Szene mit skandinavischen Kulturbestandteilen zurecht: Es war ein zweirädriger Bau, von dem ich unentschieden lasse, ob der Verbrecherkarren oder die norwegische Karriolpost in ihm vorwog;