Adolph von Menzels Lesende Dame Busch 11 Möge, Verehrte Frau, Ihre Enttäuschung beim Anblick des umseitigen nicht so groß sein[,] um Ihnen zur Warnung zu werden, Jemals wieder bei jeweiliger Gelegenheit mit Jemandem ein Vihlipbchen zu essen. B[erlin] 16. März 1872. Eines macht die rückseitige Widmung deutlich: die enge Vertrautheit zwischen Adolph von Menzel und Emilie Fontane . Bei dem genannten»Vielliebchen« handelt es sich um einen beliebten Brauch, der im 19. Jahrhundert in Mode gekommen war. Fand man etwa eine Mandel oder eine Haselnuss mit doppeltem Kern, dann war man aufgefordert, sie mit einer anderen Person zu teilen, was gleichsam als Pakt oder Wette zu verstehen war. 3 Die Wette gewann, wer am folgenden Tag zuerst den jeweils anderen mit»Guten Morgen, Vielliebchen« begrüßte. Wer das Spiel verlor, musste den Sieger mit einem kleinen Geschenk erfreuen. 4 Offenbar hatte Menzel nach einem derartigen Spiel verloren und war nun Emilie Fontane eine kleine Gabe schuldig. Seine Schuld beglich er mit dem Bildnis der lesenden Dame und der zughörigen Widmung. Die Widmung an Emilie Fontane , Theodor Fontanes zu diesem Zeitpunkt 47-jährige Ehefrau, hat die Deutung nahegelegt, dass es sich bei der Dargestellten tatsächlich auch um Emilie Fontane handelt. Eindeutig ist diese Zuschreibung nicht. Zuerst findet sie sich – allerdings noch als Möglichkeit formuliert – in einem Ausstellungskatalog der Nationalgalerie Berlin von 1955:»[V]ielleicht Frau Fontane selbst«, heißt es hier im Rahmen der Bildbeschreibung. 5 Die Möglichkeit wird zehn Jahre später, 1965, in einem Ausstellungskatalog des Berlin -Museums zur Gewissheit:»Lesende Dame(Frau Fontane )« lautet dort die Überschrift zu Katalognummer 56. 6 Die Fontane Blätter aus dem Jahr 1966 geben bei der Auflistung der Neuerwerbungen des Theodor-Fontane-Archivs zu einer durch Gerhard Küchler überlassenen Fotokopie des Bildes an:»Menzel , Adolph von: ›Lesende Dame‹(d.i. Emilie Fontane ), laut Brief des Malers vom 16.3.1872«. 7 Die von Roland Ber big herausgegebene Theodor Fontane Chronik wiederholt die Information mit Verweis auf die Fontane Blätter:»Adolph Menzel fertigt ein Bild mit dem Titel Lesende Dame an; in einem Brief vom 16.3.1872 erläutert er, daß es sich hierbei um Emilie Fontane handelt und er ihr das Bild als ›Vielliebchengeschenk‹ zukommen lässt.« 8 Und auch in der Folge taucht die Zuschreibung wiederholt auf. Sowohl im Katalog 229 des Auktionshauses Grisebach an-
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(2024) 117
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