Heft 
(2024) 117
Seite
54
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54 Fontane Blätter 117 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Kletterfreuden und Gespenster Dass Rhoden wie auch Fontane ihre Heldinnen reiten, klettern und Trep­pen hochrennen lassen, ist kein Zufall, sondern sorgfältige Inszenierung ihrer stürmischen Naturen und vogelgleichen Höhenambitionen. Effi und Ilse zeichnen sich durch eine besondere Vorliebe für waghalsige, ›knaben­hafte‹ Lust an Höhe und an sportlichen Kletterpartien aus. In beiden Ro­manen verbildlicht diese Neigung das Aufkeimen sinnlicher Bedürfnisse und Sexualität in den Jahren der Adoleszenz. Effi, die von Hulda»Midshipman« genannt werden möchte, erinnert sich zu Beginn des Romans, dass der Vater ihr für den Garten einen»Mast­baum« versprochen hat, und zwar»hier dicht neben der Schaukel, mit Raen und einer Strickleiter.« Die Wimpel oben wolle sie selbst anbringen, wäh­rend Hulda»dann von der andern Seite herauf« käme und»oben in der Luft wollten wir Hurra rufen und uns einen Kuß geben. Alle Wetter sollte das schmecken.«(E 15) Die ängstliche Pastorentochter lehnt Effis übermütigen, homoerotisch konnotierten Vorschlag ab, was Effi allerdings mit der Be­merkung kontert, als Vetter Dagobert auf Besuch war, sei die Freundin doch»auf dem Scheunendach«, also in großer Höhe,»entlang gerutscht« (E 15). Anstelle der Kletterpartie schlägt Effi der Freundin nun vor, gemein­sam zu schaukeln oder Verstecken zu spielen, bis Innstetten eintrifft und sie ins Haus zurückkehren muss. Rhoden erzählt von ähnlichen Spiel- und Freizeitvergnügen im Internat. Den hübschen Garten mit Turnplatz, Schaukel(!) und hohen alten Bäumen (T 44) nutzen Ilse und ihre Freundinnen als natürlichen Fluchtraum vor schulischen Verpflichtungen; hier wird heimlich geraucht, gespielt und ge­plaudert. In einem frühen Brief an den Vater beklagt sich Ilse an einem son­nigen Sonntag, an dem die Vögel singen und die Rosen blühen, sie wolle sich lieber»im Freien umhertummeln«; sie fühle sich in ihrem Zimmer ein­gesperrt und sehne sich nach dem Garten(T 66). Besonders an Mittwoch­nachmittagen, wenn die Schülerinnen im Speisesaal Strümpfe stricken müssten, stünden»die Fenster nach dem Garten weit offen und ich blicke sehnsüchtig hinaus.«(T 67) Wie Soldaten erledigten die Mädchen ihre Ar­beiten, nie dürften sie aus der Reihe tanzen, sie aber verspüre»so oft Lust, einmal recht toll davonzulaufen, auf die Berge hinauf immer weiter! aber dann würde ich nicht wieder in mein Gefängnis zurückkehren.«(T 68) Die Gelegenheit zu einer solch abenteuerlichen Kletterpartie ergibt sich bald. Die Szene bildet das reizvolle Zentrum des Romans und erinnert in ihrer poetischen Bildlichkeit stark an Fontanes doppelbödige Schreibwei­se: Eines Abends steht Ilse im Dämmerlicht am offenen Fenster und be­trachtet sehnsüchtig die zum Greifen nahen Früchte des Apfelbaums, wel­che»goldgelben und rotwangig, höchst verlockend zwischen dem dunklen Laube hindurch lachten«(T 103). Ilse entschließt sich, bei Anbruch der