Der Trotzkopf (1885) und Effi Briest (1895) Wege 55 Nacht zu einer Kletterpartie aufzubrechen, überraschenderweise mit Einverständnis der reiferen Zimmergenossin Nellie, die bei der Aussicht auf das Abenteuer vor Freude im Zimmer herumtanzt. Nachdem sich Ilse ein weißes»Blousenkleid« angezogen hat(T 106), bei dem es sich vermutlich um ihr zerschlissenes Kostüm aus Kindertagen handelt, steigt Ilse geschickt und leise wie eine»Katze« vom Fensterbrett aus auf den Baum:»Ilse lachte in sich hinein und stieg keck höher und höher. Sie war so recht in ihrem Elemente und frei wie ein Vogel in der Luft regte sie ihre Schwingen. Bald hatte sie die Spitze erreicht.«(T 107) Auf den Ästen balancierend, klettert sie furchtlos»wie ein Bube« bis in die Krone des Baumes, 14 wobei sie einen schlafenden Vogel aufschreckt, den sie»wohl in seiner Nachtruhe gestört« hatte(ebd.).»Wie fühlte sie sich glücklich, wie frei, wie heimatlich wurde ihr zumute«, weil der Apfelbaum sie an den Nussbaum im Garten ihrer Eltern erinnert, wo sie»manchmal neckend Versteck gespielt« hatte(T 109), und sie sich offenbar des Freiheitsgefühls gewahr wird, das sie mit ihm verband. – Ähnlich ergeht es Effi, die sich in Kessin an die glücklichen und freien Kindertage in ihrem Elternhaus zurücksehnt, nach dem Versteckspiel und dem Schaukeln mit den Freundinnen im sommerlichen Garten. Ebenso wie Effis Schaukelphantasie mit Hulda beinhaltet auch Ilses Abenteuer eine Begegnung mit Freundinnen: In glücklichen Träumen versunken, entschlüpft Ilse auf der»oberste[n] Spitze« des Apfelbaumes ein Jubelschrei(»Juchhe!«, T 109). Von diesem Lärm werden die Pensionärinnen Melanie Schwarz und Orla Sassuwitsch in ihrem Zimmer im Obergeschoss geweckt. 15 Die beiden erkennen Ilse allerdings nicht, sondern halten die schemenhafte weiße Gestalt vor ihrem Fenster für ein»Gespenst« und »Spuk«(T 110, 113, auch 230). 16 Während Melanie und Orla»in Furcht und Schrecken«(T 110) erstarren, klettert Ilse mit einem Korb voller Äpfel den Baum hinab und dann durchs Fenster zurück zu Nellie in ihr Zimmer(ebd.). Die Geschichte vom weißen Gespenst – ein dezidiert fontaneskes Motiv – spricht sich in der Pension schnell herum. Eine poetisch veranlagte Freundin Ilses mit dem schönen Namen Flora Hopfstange zittert vor»Furcht und Erregung« und findet das Ereignis derart»romantisch«, dass sie es in ihrem»nächsten Roman« verwerten will(T 113). 17 Nellie wiederum gibt nur vor, sich zu fürchten, um Ilses Geheimnis zu bewahren und sie vor einer Bestrafung durch die Erzieherinnen zu schützen. Dass Nellie(vorgeblich) »an Spukgeschichten« und Gespenster glaubt, wird von den Erzieherinnen allerdings als kindisch erachtet(T 115). Am Ende gibt Nellie dem»kleinen Spitzbuben« Ilse einen Kuss(T 119). 18 Wäre die Episode damit beendet, könnte man Rhoden zu einem kleinen Glanzstück der Symbolkunst gratulieren, doch leider nimmt die Autorin den emanzipatorischen Ausbruch ihrer flüggen Hauptfigur zugunsten ihres Tugendideals in der darauffolgenden Szene teilweise zurück: Während Nellie genüsslich die Äpfel verzehrt, plagt sich Ilse mit Schuldgefühlen,
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(2024) 117
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55
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