Unbekanntes von Josef Ettlinger Rasch 103 Mit diesen Romanen trat er erst ganz spät hervor, in einem Alter, in dem unsre anderen Literaturfürsten, wie Freytag, Spielhagen, Heyse schon am Ende ihrer poetischen Zeugungskraft standen. Dieser auffallende Umstand war mir immer verwunderlich erschienen, und einmal fragte ich ihn geradezu, wie es komme, daß er erst als Sechziger den ersten Roman veröffentlicht habe. Die Frage überraschte ihn ein wenig. Er schien sich der Sache gar nicht bewußt zu sein und mußte sich erst ausrechnen, daß er wirklich schon 59 zählte, als der vierbändige historische Roman»Vor dem Sturm« 1878 erschien. Dann aber flog jenes plötzliche Schmunzeln über sein Gesicht, das ihm so bezeichnend stand und das man so oft zwischen den Zeilen seiner Bücher, zumal seiner Lebenserinnerungen wiederzufinden glaubt. »Ja nun,« meinte er,»die Sache ist im Grunde recht einfach. Daran war eben – wie an so vielem in der Welt – der ganz gewöhnliche Geldpunkt Schuld. Den Roman – wissen Sie, wann ich den angefangen habe? Schon im Jahr 64 (ich wohnte damals an der Königgrätzerstraße, wo zu jener Zeit noch der alte Stadtgraben vorbeiging) und während ich an den ersten Kapiteln schrieb, holperten und rasselten drunten vor meinen Fenstern – bum, bum, bum – die österreichischen Kanonen vorüber, die nach Schleswig zogen. Und da mußt ich denn nachher auch mit, um zuzusehen, und nach dem Feldzug schrieb ich mein Buch darüber, und dann kam 66 und wieder ein Buch über den Krieg, und dann 70/71 – und kurz, es dauerte bis zum Jahre 1876, also über zwölf Jahre, bis ich endlich den Roman wieder vorholen konnte. Denn ich war damals nicht in der glücklichen Lage, meine Zeit auf ein Buch zu verwenden, von dem ich nicht vorher genau wußte, daß es auch etwas einbringt. Mit dem Roman ging es aber so, oder wär’ doch um ein Haar so gegangen, wenn nicht schließlich Pantenius ihn genommen und im»Daheim« gedruckt hätte.« So merkwürdig dieses späte Erblühen eines einzigartigen Erzählertalentes schon an sich erscheint, noch merkwürdiger ist es, daß es sich erst nach weiteren zehn Jahren zu seiner vollen Reife entfaltete; denn seine köstlichsten und individuellsten Bücher, die kleinen Romane»Irrungen, Wirrungen«,»Stine«,»Frau Jenny Treibel«, den autobiographischen Roman »Meine Kinderjahre «, den großen Roman»Effi Briest «, das entzückende Lebensbild»Die Poggenpuhls « und endlich seinen letzten Erinnerungsband »Von Zwanzig bis Dreißig«, diese alle hat er eigentlich erst»zwischen Siebzig und Achtzig« geschaffen, und er bleibt mit dieser Aufwärtsentwickelung im Alter ein Phänomen, das in unserer Literaturgeschichte seines Gleichen nicht hat, auch an Goethe nicht, der von seinen großen Werken keines erst als Greis geschaffen hat; das man nur etwa mit Adolf Menzel , dem künstlerischen Seelenverwandten Fontanes, in Parallele stellen kann. Die Romane vor»Irrungen, Wirrungen« –»Cécile«,»L’Adultera « und die anderen – haben noch nicht die weltreife Kunst echter Lebenswiedergabe,
Heft  
(2024) 117
Seite
103
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