Heft 
(2024) 117
Seite
104
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104 Fontane Blätter 117 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte noch nicht den ganz persönlichen Zauber, das»Bouquet« fontanischer Dar­stellung. Erst mit»Irrungen, Wirrungen« begann dieses Stadium der Selbstvollendung, erst mit diesem kleinen Roman der das»Verhältnis« ei­nes jungen Offiziers zu einem Berliner Mädchen niedrigen Standes und die Art, wie beide durch das Leben auseinandergerissen werden, mit den denk­bar schlichtesten Mitteln behandelt schuf sich der Dichter seine eigene Erzählungsgattung, deren ganze Definition der Name Theodor Fontane ist. Das Werk erschien eines Sommers zuerst in den Spalten der»Vossischen Zeitung«, die damals noch sonst grundsätzlich keine Romane brachte(seit Kurzem erst thut sie es), und trug der Redaktion eine kleine Flut von unge­haltenen Briefen erzürnter Mütter und besorgter Väter ein, die in die Zwangslage versetzt waren, vor ihren Töchtern die sonst so himmlisch harmlose»Tante Voß« sorgfältig wegzuschließen. Seinen größten Wurf aber hat Theodor Fontane erst vor drei Jahren mit dem umfänglichen Roman»Effi Briest « gethan, der Geschichte einer blut­jungen Frau, die von den Eltern an einen mehr als doppelt so alten Landrat im Pommerschen verheiratet wird und unter dem Zusammenwirken be­stimmter Eindrücke und Erlebnisse ins Elend gerät, derart, daß es zur Scheidung kommt und sie selbst als eine gesellschaftlich Ausgestoßene nach längerem Dahinwelken stirbt. In diesem Meisterroman, der in mehr als einer Hinsicht ein deutsches Gegenstück zu dem vielbewunderten Ur­bild des modernen französischen Romans, zu Flauberts»Madame Bovary « darstellt, steckt die ganze Essenz fontanischer Weltanschauung, die geklär­te Besonnenheit, mit der er den unvermeidlichen Wirklichkeiten dieses konfusen und seltsamen Lebens gegenübersteht, die tiefe Herzenserfah­rung des alles verstehenden Weisen. Von den Gefühlen und Gedanken der Personen erfährt man fast gar nichts direkt, denn Fontane hat nichts von der analysierenden Technik unserer psychologischen Romanerzähler, die ihre Helden von innen heraus erleuchten und gleichsam transparent zu ma­chen suchen; er läßt alles Licht von außen auf sie fallen und macht uns so genau mit ihnen vertraut, daß wir ihr Denken und Fühlen so gut verstehen, als wäre es in vielen Worten dargelegt. Freilich, die großen, flammenden Leidenschaften des Herzens, die kom­men in seinen Romanen nicht vor. Aber sie kommen wohl auch im Leben unvergleichlich viel seltener vor, als uns die vielen Liebesromane glauben machen wollen. Zum Glück, nebenbei gesagt. Und man darf es Fontane nicht zum Vorwurf machen, daß seine Menschen so gar nichts Vulkanisches und Elementares, sondern desto mehr praktisch vernünftige Gedanken haben, wie die tapfer ihrem adligen Botho entsagende Lene in»Irrungen, Wirrun­gen«, oder die kluge Professorstochter Corinna in»Frau Jenny Treibel«, die sich noch rechtzeitig für den simpeln, sie treu verehrenden Vetter entschei-