Heft 
(2024) 117
Seite
108
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108 Fontane Blätter 117 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Von Fontane *) wenigstens darf man wirklich das Paradoxe behaupten, daß er mit jedem seiner Werke jünger wird. Als ein Sechsundsiebzigjähri­ger, der noch immer höher und höher zu steigen scheint, ist er ein wahres Phänomen unter seinesgleichen, von denen leider kaum noch einer so viel weise entsagende Selbstkritik besitzt, wie etwa Gustav Freytag , der schon viele Jahre früher als sein Leben sein Dichten für immer schloß. Denn was Spielhagen, Heyse, Lindau , Hopfen und Andere in neuer Zeit noch an Ro­manen aufgebracht haben, das zeigt so deutlich die Spuren des Nieder­gangs und der Selbstverzehrung, daß aller Respect vor früher Geleistetem darüber nicht mehr hinwegtäuschen kann. Freilich hat auch grade Fontane seine poetische Schaffenskraft ungleich viel länger unverbraucht bei sich gesammelt, als irgend je ein Anderer, und in einem Alter, in dem die meis­ten unserer bekannten Erzähler schon ermattet die Feder sinken lassen oder doch ihrer Dichtung Maienblüte längst hinter sich liegen haben, hat er mit sechzig Jahren die Perlenkette seiner Romanschöpfungen erst be­gonnen und seitdem mit immer reicherer Entfaltung seiner herzgewinnen­den Kunst bis heute fortgeführt. Nur durch diese ganz ungewöhnlich lange Zurückhaltung oder besser gesagt, die selten späte Entwicklung eines so wurzelkräftigen Talentes ist die Merkwürdigkeit zu erklären, daß den eben erschienenen Roman» E f f i B r i e s t« **) wirklich ein nahezu Achtzigjähriger geschrieben hat. Effi Briest ist eine märkisch-pommersche Madame Bovary . In der Mark ist sie geboren und groß geworden, auf dem stillen Landsitz Hohen-Crem­men, wo sie von guten, aber etwas phlegmatischen Aeltern mehr beaufsich­tigt als erzogen ward; und in Pommern , in der kleinen Ostsee -Badestadt Kessin, spielt sich der kurze Roman ihrer Ehe, ihres Lebens ab. Gleich die ersten knappen Capitel bringen ihre Verheirathung und die Uebersiedlung aus dem Aelternhause nach der Landrathswohnung in Kessin. Geert v. Innstetten war eine Jugendliebe von Effis Mutter gewesen; da diese einst auf ihn verzichten mußte, soll jetzt die siebzehnjährige Effi mit dem Acht­unddreißigjährigen glücklich werden. Als er um sie anzuhalten kommt, spielt sie eben noch im Gemüsegarten»Anschlagen« mit den Cantorstöch­tern; am selben Abend wird die Verlobung gefeiert und ein paar Monate später schon zieht der Landrath mit seiner jungen Frau in Kessin ein… In diesen einleitenden Abschnitten liegt gleich die ganz specifisch Fontane­sche Stimmung: das Vermeiden jedes Ueberschwangs, die ruhige Sachlich­*) Um einem sehr verbreiteten Irrthum zu begegnen, sei bemerkt, daß der Dichter seinen halbfranzösischen Namen mit dem Ton auf der ersten Silbe und stummem Schluß-e ausspricht. **) Berlin , F. Fontane& Co.