Heft 
(2024) 118
Seite
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Kriegsgesellschaft Schneider 49 hundert wirkenden deutsch -französischen Kriegsantagonismus mit dem Jahr 1871 an sein Ende gekommen. Als»kollektiven Bezugspunkt« 67 machte die nationalistische Historio­graphie des Kaiserreichs das Symboldatum 1813 aus, das die Wende im Kampf gegen Frankreich gebracht habe. Bei Ausbruch des Krieges im Jahr 1870 hieß es, Preußen müsse sich wie damals gegen die Aggressionen eines Napoleon zur Wehr setzen, wie damals sei Deutschland der Angegriffene. Eine These, die auch die Presse häufig wiederholte. 68 Nicht zufällig liest in Raabes Deutscher Adel die bürgerliche Soldatenmutter, während ihr Sohn in Frankreich kämpft, Droysens Darstellung der preußischen Helden der Befreiungskriege. 69 Auf den ersten Blick beteiligt sich auch Fontane mit sei­nem Debüt Vor dem Sturm an diesem Unternehmen, legt er doch unmittel­bar nach der Publikation seiner militärgeschichtlichen Darstellung des Krieges gegen Frankreich einen Roman zu den Anfängen der Befreiungs­kriege vor. So ganz will der Text aber nicht in den Bellizismus der Zeit pas­sen. Die kriegerische Vergangenheit Preußens verwandelt sich in ihm in Spuk 70 und Aberglauben, geistert auf unheimliche Weise durch das Ge­schehen. Es gibt den in der Kirche stehenden Majorsstuhl, der von einem Blutfleck gezeichnet ist und damit die Erinnerung an die Brutalität des Sie­benjährigen Krieges aufrecht hält. 71 Und es gibt den Geist des Ahnen Mat­thias von Vitzewitz, der als Folge der Ereignisse des Dreißigjährigen Krie­ges seinen Bruder erschlug und nun angeblich durch die Scheune des Herrenhauses spukt. 72 Solche Transformationen der Kriegsgeschichte ins Unheimliche sind in Fontanes Prosa keine Seltenheit. In Schach von Wuthe­ now treffen die Protagonisten auf ihrer Spazierfahrt nach Tempelhof in der Kirche auf das Steinbild eines Reiteroberst, der dort angeblich seit dem Dreißigjährigen Krieg als Geist»gepoltert« habe. 73 Fontane bedient mit seinen historisierenden Erzähltexten nicht einfach nur den Publikumsgeschmack der Zeit, sondern setzt sich mit der bellizisti­schen Geschichtsschreibung des Kaiserreichs auseinander. Die preußi­schen Kriege der Vergangenheit erscheinen nicht als stabilisierendes Fun­dament, sondern als Element der Verunsicherung, das nicht einfach in das Wissen von der Geschichte integriert werden kann. Zugleich ließen sich aus Fontanes historisierender Darstellung Anspielungen auf aktuelle politische Debatten herauslesen. In Vor dem Sturm schenkt er der in den Befreiungs­kriegen gegründeten Landwehr und damit der von den 1848ern propagier­ten Idee der ›Volksarmee‹ noch einmal einen letzten, nostalgischen Auftritt. Eine solche Massenmobilisierung von unten war aber nach der Heeresre­form der 1860er-Jahre längst obsolet. Die bürokratisch organisierte Mobi­lisierung von oben unter der Führung Moltkes hatte 1870 perfekt funktio­niert die Landwehr der Veteranen in Vor dem Sturm ist militärisch dann auch den französischen Truppen unterlegen. 74