Kriegsgesellschaft Schneider 49 hundert wirkenden deutsch -französischen Kriegsantagonismus mit dem Jahr 1871 an sein Ende gekommen. Als»kollektiven Bezugspunkt« 67 machte die nationalistische Historiographie des Kaiserreichs das Symboldatum 1813 aus, das die Wende im Kampf gegen Frankreich gebracht habe. Bei Ausbruch des Krieges im Jahr 1870 hieß es, Preußen müsse sich wie damals gegen die Aggressionen eines Napoleon zur Wehr setzen, wie damals sei Deutschland der Angegriffene. Eine These, die auch die Presse häufig wiederholte. 68 Nicht zufällig liest in Raabes Deutscher Adel die bürgerliche Soldatenmutter, während ihr Sohn in Frankreich kämpft, Droysens Darstellung der preußischen Helden der Befreiungskriege. 69 Auf den ersten Blick beteiligt sich auch Fontane mit seinem Debüt Vor dem Sturm an diesem Unternehmen, legt er doch unmittelbar nach der Publikation seiner militärgeschichtlichen Darstellung des Krieges gegen Frankreich einen Roman zu den Anfängen der Befreiungskriege vor. So ganz will der Text aber nicht in den Bellizismus der Zeit passen. Die kriegerische Vergangenheit Preußens verwandelt sich in ihm in Spuk 70 und Aberglauben, geistert auf unheimliche Weise durch das Geschehen. Es gibt den in der Kirche stehenden Majorsstuhl, der von einem Blutfleck gezeichnet ist und damit die Erinnerung an die Brutalität des Siebenjährigen Krieges aufrecht hält. 71 Und es gibt den Geist des Ahnen Matthias von Vitzewitz, der als Folge der Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges seinen Bruder erschlug und nun angeblich durch die Scheune des Herrenhauses spukt. 72 Solche Transformationen der Kriegsgeschichte ins Unheimliche sind in Fontanes Prosa keine Seltenheit. In Schach von Wuthe now treffen die Protagonisten auf ihrer Spazierfahrt nach Tempelhof in der Kirche auf das Steinbild eines Reiteroberst, der dort angeblich seit dem Dreißigjährigen Krieg als Geist»gepoltert« habe. 73 Fontane bedient mit seinen historisierenden Erzähltexten nicht einfach nur den Publikumsgeschmack der Zeit, sondern setzt sich mit der bellizistischen Geschichtsschreibung des Kaiserreichs auseinander. Die preußischen Kriege der Vergangenheit erscheinen nicht als stabilisierendes Fundament, sondern als Element der Verunsicherung, das nicht einfach in das Wissen von der Geschichte integriert werden kann. Zugleich ließen sich aus Fontanes historisierender Darstellung Anspielungen auf aktuelle politische Debatten herauslesen. In Vor dem Sturm schenkt er der in den Befreiungskriegen gegründeten Landwehr und damit der von den 1848ern propagierten Idee der ›Volksarmee‹ noch einmal einen letzten, nostalgischen Auftritt. Eine solche Massenmobilisierung von unten war aber nach der Heeresreform der 1860er-Jahre längst obsolet. Die bürokratisch organisierte Mobilisierung von oben unter der Führung Moltkes hatte 1870 perfekt funktioniert – die Landwehr der Veteranen in Vor dem Sturm ist militärisch dann auch den französischen Truppen unterlegen. 74
Heft  
(2024) 118
Seite
49
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