Alter im Recht Rathjen 63 1. Fontane und das Recht In Fontanes Gesamtwerk und dessen Rezeption nimmt der Themenkomplex Recht eine weitaus weniger prägende Stellung ein als andere Aspekte. Selten geht es dezidiert um zeitgenössische Rechtsbegriffe, polizeiliche Ermittlungsverfahren, juristische Normen oder rechtstheoretische Reflexionen. Bekanntermaßen war Fontane auch kein Dichterjurist wie etwa Hebbel , Storm oder Uhland – um nur einige zu nennen. Auch die wissenschaftlichen Studien zum Recht sind in der sonst so üppigen Forschungslandschaft überschaubar. Dieser Befund scheint darauf hinzudeuten, dass Fontane gewisse Vorbehalte gegenüber der Sphäre des Juridischen hegte. Zumindest drückt sich darin nicht gerade eine hingebungsvolle Neigung aus, die man von einem gesellschaftspolitischen und thematisch facettenreichen Autor, wie Fontane es war, durchaus erwarten würde. Doch damit lässt sich das Thema Recht bei Fontane nicht beschließen. Journalistische Beiträge und Briefe zeugen davon, dass Fontane eine Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Fällen und historischen Justizskandalen wie etwa das Strafverfahren gegen den Maler Gustav Graef 4 , die Katte-Tragödie 5 und die Dreyfus-Affäre 6 nicht scheute. Sie belegen ein Interesse an der Dimension des Rechts, obschon sich daran keine eingehenderen rechtstheoretischen Reflexionen anschließen. Überhaupt wäre es vorschnell geurteilt, von einer völligen Abwesenheit von Rechtsfragen zu sprechen, da Rechtsnormen und Elemente zeitgenössischen Rechts bzw. des zeitgenössischen Rechtsdenkens in Fontanes literarischem Werk durchaus berührt werden. Dies gilt allen anderen Werken voran für die Kriminalerzählungen Grete Minde , El lernklipp , Unterm Birnbaum und Quitt. Jedoch bleibt Fontanes Rechtsverständnis definitorisch unbestimmt: Mal wird es als geltendes Gesetz, mal als Rechtsprechung, dann als Gewohnheitsrecht und Rechtsgefühl inszeniert. Im weitesten Sinne können auch jene Werke Fontanes angeführt werden, die sich mit gesellschaftlichen Normen, sittlichen Rechtsbrüchen und individuellem Rechtsgefühl befassen wie etwa Unwiederbringlich, Effi Briest , L’Adultera , Schach von Wuthenow und Cécile . 7 All diese Texte behandeln solche sozialen Konstellationen – Ehebrüche, Duelle und Suizide –, die auf spezifischen gesellschaftlichen Normen aufbauen und mit jenen in einen Konflikt geraten. Es geht selten darum, einen versöhnlichen Ausweg aus den dilemmatischen Situationen zu weisen. Vielmehr dient die lancierte Kollision von geltendem Rechtssystem und Gerechtigkeitssinn als Folie für eine kritische Schau von Gesellschaft und ihren Ordnungsvorstellungen. Bislang ist die gesellschaftspolitische Ebene der Erforschung der Rechtsthematik bei Fontane von zwei Gesichtspunkten her bestimmt: Zum einen konzentriert sie sich auf den Kausalzusammenhang von Schuld und Sühne 8 bzw. in einer stärkeren juristischen Formulierung auf den Zusammenhang von Verbrechen und Strafe und zum anderen auf das Verhältnis
Heft  
(2024) 118
Seite
63
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