Teil eines Werkes 
Bd. 2 (1903) Goethe ; Theil 1
Entstehung
Seite
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Einleitung.

So unangenehm das Manchem sein mag, so ist doch an der Sache nichts zu ändern. Ein Blick auf die neuere schöne Literatur zeigt, dass das Interesse am Pathologischen wächst. Mag auch die Form, in die sich dieses Interesse kleidet, vielfach unerfreulich, ja widerwärtig sein, so liegt doch diesen modernen Be­strebungen, deren Auswüchse freilich Tadel verdienen, eine richtige Erkenntniss zu Grunde. Es macht sich eben überall die enorme Bedeutung krankhafter Geistes­zustände fühlbar, und man beginnt einzusehen, dass ohne ihre Berücksichtigung eine zutreffende Beur­theilung menschlicher Zustände und Werke überhaupt unerreichbar ist.

Kurz kann man also sagen: Krankhafte Geistes­zustände sind im wirklichen Leben von der grössten Bedeutung, sie müssen es daher auch in dem Bilde des Lebens, in der poetischen Schilderung sein. Dieser von vornherein auffallende Satz wird durch die Betrach­tung der Werke des Dichters, dem man gern einen be­sonderen Sinn für die Wirklichkeit zuschreibt, nemlich Goethes durchaus bestätigt.

Das, was zumeist das Verständniss krankhafter Geisteszustände verhindert hat, war die Ansicht, dass der Mensch aus Leib und Seele, Körper und Geist, oder gar aus Geist, Seele und Leib zusammengesetzt sei. Diese Annahme zweier Substanzen, der soge­nannte Dualismus oder Spiritualismus, scheint der