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Vorwort
such war und mit ihm lange Gespräche führte, hatte Lessing die Stadt schon seit Jahren verlassen. Aber das hat der jüdische Maler Moritz Daniel Oppenheim, berühmt für seine biedermeierlichen Genrebilder frommer jüdischer Häuslichkeit und Bürgerlichkeit, vermutlich sogar gewußt, als er Jahrzehnte später im Jahr 1856 dieses Ölbild malte. Es ging ihm nicht um historische Genauigkeit, es ging ihm darum, eine Konstellation darzustellen. Und das ist ihm so plausibel gelungen, daß sein Gemälde als Stich vervielfältigt wurde und auf diese Weise weite Verbreitung fand. Gemälde und Stich sind Teil des Mendelssohn-Mythos, der sich schon kurz nach Mendelssohns Tod bildete und in dem Mendelssohn für das deutsch-jüdische Bürgertum zum Archetyp des deutschen Juden und deutsch-jüdischer Bürgerlichkeit verklärt wurde: der erste Jude in Deutschland, der als Weltweiser und Kritiker, Kaufmann und Familienoberhaupt die volle Anerkennung solch berühmter Aufklärer wie Lessing genoß und dabei der jüdischen Religion und Tradition stets treu blieb.
Oppenheim konnte sich sicher sein, daß zumindest die jüdischen Betrachter ausreichendes historisches Wissen über Mendelssohn hatten, um die im Gemälde konstruierte Konstellation zu erkennen: Mendelssohn, der Inbegriff des aufgeklärten Juden, der bekannte Philosoph, «Vater» der jüdischen Aufklärung und das Vorbild jedes aufgeklärten und emanzipierten jüdischen Bürgers, wird hier bildlich mit der vermeintlich größten Herausforderung seines Lebens konfrontiert: Lavaters schriftlicher Aufforderung an Mendelssohn im Jahr 1769, also Jahre nach seinem Besuch in Berlin und auf dem Höhepunkt von Mendelssohns Ansehen als Aufklärer, in einem publizistischen Religionsdisput die Wahrheiten des Christentums zu widerlegen oder sich taufen zu lassen. Diesen Disput über die wahre Religion, den Lavater mit einem Verweis auf seine Gespräche mit Mendelssohn eröffnet hatte, versetzt Oppenheim zurück in eine häusliche Szene.