Vorwort
Ein Historiengemälde. Bürgerliches Interieur, keine Hoffräulein. Johann Caspar Lavater, der Zürcher Prediger, und Gotthold Ephraim Lessing zu Besuch beim Juden Moses Mendelssohn in dessen Berliner Haus. Der Gastgeber Mendelssohn, im roten Rock links am Tisch sitzend, den Philosophen-Kopf auf die Hand gestützt, hört aufmerksam und nachdenklich Lavater zu, der aufdringlich über den Tisch gespreizt mit der Linken ein Buch geöffnet hält. Vermutlich die Bibel. So groß ist Lavaters Eifer bei der Erörterung des Buchs, daß er mit dem Ellenbogen das Tischtuch und das Schachbrett verschoben hat, an dem sonst die Freunde Mendelssohn und Lessing der Überlieferung nach so manche Partie spielten. Mendelssohn und Lavater sitzen sich gegenüber, Mendelssohn links hat im Vordergrund die gelehrten Folianten auf seiner Seite, Lavater den Wanderstock des Gastes. In der Mitte des Gemäldes, hinter dem Tisch und vor der Bücherwand des jüdischen Gelehrten steht Lessing, in Miene und Körperhaltung sichtlich distanziert von Lavater, aber dem Freund Mendelssohn zugewandt. Aus einem angrenzenden Zimmer bringt die ahnungslose Fromet Mendelssohn auf einem Tablett Kaffee, Zeichen bürgerlicher Gastfreundschaft und Geselligkeit. Anerkennung und gesellschaftlicher Erfolg des jüdischen Aufklärers Mendelssohn werden allein schon dadurch deutlich, daß er in seinem Haus Christen zu Gast hat, zumal zwei der bekanntesten christlichen Zeitgenossen. Wenn Christen der Einladung in ein jüdisches Haus Folge leisten, ist, auch auf der symbolischen Ebene, der Auszug der Juden aus dem Ghetto vollzogen.
Diese Szene hat mit Sicherheit nie stattgefunden. Als Lavater im Jahr 1763 bei Mendelssohn in Berlin zu Be-