Druckschrift 
Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
Seite
190
Einzelbild herunterladen

190

Paradoxe und Privates

Mißverständnisse und Selbstmißverständnisse. 59 Auf beiden Sei­ten. Kein Zweifel kann an der subjektiven Ehrlichkeit herrschen, mit der beide Männer sich begegnen. Dafür soll hier ein wichtiges Selbstbekenntnis Nordaus stehen, das erklärt, wie und warum er sich in der patriarchalischen Gesellschaft des Fin de siede durch abweisende äußerliche Posen von harter Männlichkeit und kalter Wissenschaftlichkeit gegen die eigene »Sentimentalität« und Sen­sibilität panzert, eine Stelle, die auch den weiten Weg nachvollzie­hen hilft, wie aus dem linkischen, des Tanzens unkundigen Pester Aufsteiger, der nur ein Paar Schuhe sein eigen nennt, ein Pariser Salonlöwe wurde, der gegenüber Achad Haam die berühmten wei­ßen Handschuhe für die Besucher der Oper des zukünftigen Juden­staates verteidigen wird. Nordau 1886 an von Jagow:

»Denn wenn ich vielen kalt, zu herzlos scheine - und selbst Ihnen so geschienen habe - so ist es, weil ich von Natur lächer­lich weich und überschwenglich bin und seit ich zum Bewußt­sein meiner selbst gelangt bin[,] beständig an mir erziehe, um mich von dieser Schwäche zu befreien. Wie wenig mir das inner­lich gelungen ist, wage ich nicht, Ihnen zu bekennen; ich gebe mir darum umso mehr äußere Haltung, um mich gegen meine eigene Sentimentalität zu schützen. Ließe ich mich jetzt gehen, so käme wol etwas erstaunlich Sentimentales heraus - aber es ist ja wol- verstanden, daß Sentimentalität lächerlich ist, und so will ich mich lieber nicht lächerlich machen.« 60

Basis der Freundschaft beider Männer ist, daß Nordau und von Jagow sich beide zur Literatur berufen fühlen, aber Leidensgenos­sen im Journalismus sind. Er bedeutet beiden nur den Brotberuf, der ihnen die Schriftstellerei ermöglichen soll. Nordau ist während langer Jahre der erste Leser und Kritiker von Manuskripten der Theaterstücke von Jagows wie »Die Dulderin« oder »Ratibor «. Gleiches gilt für von Jagow, der vor allem bei der Abfassung von Entartung der erste Leser und Kommentator der Bürstenabzüge ist. Berücksichtigen wir die Dichte der Korrespondenz und die Of­fenheit der Kritik, so dürfen wir sogar annehmen, daß von Jagow

59 Vgl. zu dieser Diskussion: Deutschtum und Judentum. Ein Disput unter Juden aus Deutschland, hg. v. Christoph Schulte, Stuttgart 1993.

60 Brief Nordau-von Jagow, 8.3.1886, ZZAA 119/283/1.