Weltkrieg
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möglichen, denn unmittelbare Triebbefriedigung der Individuen ist gesellschaftsfeindlich. Und nur in bestimmten Formen der Gesellschaftlichkeit und des Zusammenlebens kann die menschliche Gattung sich erhalten. 67 »Zweck aller Sittlichkeit ist, den Menschen das friedliche und gedeihliche Zusammenleben zu ermöglichen; innerhalb dieser allgemeinen Aufgabe ist es der des Rechts, die gröbsten Hindernisse dieser Harmonie zwischen Individuen mit Gewalt zu unterdrücken und jedermann zur Achtung der Interessen des Nächsten nachdrücklich, mit materiellem Zwang zu verhalten.« 68 Um zu einer Verwirklichung der Sittlichkeit zu kommen, bedarf es allerdings der philosophischen Illusion einer Willensfreiheit nicht. »Es gibt keine Willensfreiheit.« 69
Charakteristisch für Nordaus Haltung zum Ersten Weltkrieg ist eine Äußerung in der Biologie der Ethik, wo er »Angriffskriege«, die Verderben über die Menschheit bringen, als eine Folge der Zersetzung der öffentlichen und privaten Sittlichkeit geißelt, 70 aber zu der umstrittenen Kriegsschuld-Frage keine Stellung nimmt. Nordau hält während des Krieges streng auf Neutralität, und er ist der Meinung, daß die zionistische Bewegung dies auch tun solle. Als schon am 3. November 1914 Jabotinsky nach Madrid kommt, um bei ihm für seine Unterstützung zur Bildung einer jüdischen Legion zu werben, überwiegt die persönliche Sympathie. Er bestärkt den späteren Revisionisten Jabotinsky , an der Idee eines autonomen jüdischen Staates festzuhalten. Aber der Idee einer jüdischen Legion auf seiten der Briten widersetzt sich Nordau , denn sie gefährde die außenpolitische Neutralität des Zionismus gegenüber den Großmächten. 71 Wahrscheinlich war die Vorsicht Nordaus angebracht, denn Ende 1914 war der Kriegsausgang nicht abzusehen, die zionistische Bewegung vom Krieg überrascht und in verschiedene nationale Lager gespalten. Nordau votierte jedoch auch nicht pro-deutsch , wie die Mehrheit der deutschen Zionisten, einschließlich der Zentrale in der Sächsischen Straße 8 in Berlin : Dort galt der
67 Nordau , Die Biologie der Ethik, S. 219 u. ö.
68 Nordau, Die Biologie der Ethik, S. 98.
69 Nordau , Die Biologie der Ethik, S. 163.