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Sonderheft 5, Theodor Fontane: Unveröffentlichte und unbekannte Gedichte Toaste und Verse 1838 bis 1896
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Literatur gewann, und vertiefte Kenntnis der eigenen Natur, ihrer Möglichkeiten und Grenzen.

Fontanes Lyrik gewinnt weiter durch ihre Stellung in der Geschichte der deutschen Literatur. Der Balladier Fontane ist der letzte bedeutende bürgerliche deutsche Balladendichter, ehe auf der einen Seite der Moder­nismus zur bailadenhaften Gegenständlichkeit und Dynamik unfähig und auf der anderen Seite die proletarisch-revolutionäre Literatur die deutsche Ballade notwendig grundsätzlich erneuern und weiterentwickeln wird. Der Spruchlyriker weist sowohl auf Goethe zurüdc wie auf Bertolt Brecht, Erich Kästner und R. M. Rilke voraus.

Brecht und Fontane teilen auf ihre Weise die Erneuerung der Inhalt- Form-Beziehung in der Literatur, besonders den rhetorisch-gestischen Charakter ihrer Dichtung überhaupt und den aphoristischen Charakter ihrer Lyrik in seiner schwer errungenen Einfachheit im besonderen. Während Fontane nicht-didaktische private Spruchdichtung von freilich allgemeiner Bedeutung schuf, stieß Brecht zu didaktischer und hymnischer öffentlicher gesellschaftsumwälzender Spruchdichtung als einem Element seiner operativen proletarisch-revolutionären und sozialistisch-realisti­schen Dichtung vor. Erich Kästner erinnert in der Sachlichkeit und Saloppheit und in manchem selbstironischen und skeptischen Ton seiner privatenGebrauchslyrik an Fontane, bleibt jedoch durch kleinbürger­liche Verabsolutierung von Resignation und Hoffnungslosigkeit objektiv hinter Fontanes spruchhafter individueller Lebenshilfe zurück. Rilke, der noch mit dem alten Fontane in brieflichen Kontakt trat, erinnert an den Lyriker Fontane durch die in denAufzeichnungen des Malte Laurids Brigge erhobene Forderung nach demErfahrungs-Charakter von Versen. Doch die von Rilke für die Lyrik theoretisch vorgesehenen schicksalhaftenErfahrungen sind nicht gleichzusetzen mit den konkre­teren und aktiveren Lebenserfahrungen in Fontanes Spruchgedichten. Das Berliner Sujet lebte bei Alfred Kerr und Kurt Tucholsky weiter. Als Lyriker wie übrigens auch als Theater- und Literaturkritikererbten sie besonders Fontanes hohes Sprachbewußtsein und sein sensibles Tonfallempfinden. Der realistische Sinn für gestisdie Genauigkeit trat bei Tucholsky früher auf als bei Kerr, der erst im antifaschistischen Kampf gestische Eindeutigkeit gewann.

Fontane erweist sich damit objektiv als produktiver Umschlagspunkt auch in der Geschichte der deutschen Lyrik. Er ist geeignet, zur Ent- konventionalisierung und Überwindung des rein empfindungslyrischen spätbürgerlichen Lyrikbegriffes beizutragen.

Auch hinsichtlich der produktiven Wechselwirkungen zwischen Lyrik und Epik, im Hinblick auf dieangesichts der Poesie 13 gschriebent Prosa nimmt Fontane eine originelle, ja singuläre Stellung in der Geschichte der deutschen Literatur ein. Heinrich Heine und Theodor Fontane teilen zwar die Vorliebe für das moderne, saloppe und drastische Wort und für den prosaisch angereicherten Vers, bei Heine bleibt jedoch die Wechselwirkung auf Lyrik, Publizistik und Reisebildprosa beschränkt.