Heft 
Sonderheft 5, Theodor Fontane: Unveröffentlichte und unbekannte Gedichte Toaste und Verse 1838 bis 1896
Seite
11
Einzelbild herunterladen

lierung von Widersprüchen in einer Künstlerehe in bürgerlicher Zeit kommt ihnen überindividuelle Bedeutung zu.

Bin durchgehender Grundzug der Fontaneschen Gedichte ist die Neigung zur Reihung. Auf gezählt werden an einer bestimmten Stelle des Gedich­tes Ortsnamen, meist Namen der märkischen Heimat, Eigennamen geschichtlicher oder zeitgenössischer Persönlichkeiten, Namen von Tieren und Pflanzen. Alfred Döblin hat einmal erklärt, er wolle aus dem Material der Worte so viel Gegenständlichkeit wie möglich herauspressen. Diese sachliche Tendenz ist sicherlich auch bei Fontane vorhanden, der eben als nicht primär empfindungslyrische Begabung gern hinter objektiven Gegenständen zurücktritt. Aber bei aller Lockerheit und grammatischen Unverbundenheit der gereihten Substantive ist doch Fontane bei solcherdinglichen Verfahrensweise frei von jeder verding­lichenden, negativ-naturalistischen Tendenz. Seine Aufzählungen sind funktional-realistisch, verstoßen nicht gegen die zentrale Stellung des Menschen in der Kunst, zu der sich Fontane wiederholt bekannte. Ein positiver, einfunktionierender Einfluß des Naturalismus mag bei dieser Neigung zur sachlichen Reihung und Verdichtung vorliegen.

Auf der anderen Seite dringt Fontanes Subjektivität in den Romanen ins Innere der Figuren, zum Beispiel in die Innenwelt Botho von Rien- äekers, so tief ein 11 , daß man geradezu von Tendenzen zur lyrischen Aneignungsform der Realität innerhalb der Epik sprechen kann. Fontane erweist sich damit vollends als ein heimlicher, indirekter Lyriker, dem das unmittelbare empfindungslyrische Bekenntnis wesensfremd ist und der es scheut, der aber über die figurale Vermittlung in Ballade, Rollen­gedicht und Roman, im Spruch- und Gelegenheitsgedicht und in der Naturimpression zu verhaltener lyrischer Stimmungshaftigkeit gelangt. Objektives und Subjektives fallen also bei Fontane nicht naturalistisch auseinander, sondern durchdringen sich realistisch zu inniger Einheit.

Bleibt zu fragen, warum sich lyrische Ergriffenheit und Beseeltheit bei Fontane erst im Alter ergeben. Dazu bedurfte es offenbar reicher Lebens­und Kunsterfahrung und tiefer Kenntnis der eigenen Natur. Der un­pathetische beseelte prosanahe Spätvers ist zweifellos auch ein Produkt wiederholter Desillusionierungen. Während aber die Verinnerung und Beseelung der 50er Jahre mit Sentimentalität, Hausbackenheit und Hol- prigkeit verbunden sind, ist der Spätvers von diesen negativen inhalt­lichen und formalen Elementen frei und wahrhaft urban. Er ist von künstlerischem Selbstbewußtsein undverantwortungsvoller Ungebun­denheit 12 gekräftigt, die auch aus der gesellschaftlichen Übergangslage der Zeit Kräfte zieht. Er ist auch nicht absolut, nicht naturalistisch unpathetisch, sondern verkörpert ein neues, schlichtes, unredensartliches Pathos, das den neuen gesellschaftlichen Gegebenheiten des industriellen Fortschritts und des Aufstiegs der revolutionären Arbeiterklasse ent­spricht. Weitere Voraussetzungen für den lakonischen beseelten gestischen Altersvers sind tiefes und sicheres Wissen um künstlerische Originalität, das Fontane aus dem Studium des Erbes und vor allem zeitgenössischer

11