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Eine ungekannte Welt : Erzählungen aus dem jüdischen Familienleben / von Judäus
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noch unversehrt, aber sonst sand sich auch nicht der leiseste An­haltspunkt, der auf eine Spur des Thäters führen konnte.

Während er das Licht wieder auslöschte und den Stuhl an seinen Platz zurückstellte, überflog sein rascher Geist noch ein­mal das ganze Geschehniß bis in alle Details, aber nirgends eine Spur. Als er wieder den Schrank zu schließen im Begriffe war, fiel ihm auf, woran er sich schon heute Vormittag gestoßen hatte, daß das Schloß nicht mit der Leichtigkeit wie früher funktionirte. Heute Morgen hatte er darüber gelächelt, als der Stadthauptmann den hohlen Schlüssel fixirte, aber jetzt trat er an's Fenster und that nun selber, was er vor wenigen Stunden lächerlich gefunden hatte. Es war der richtige ihm wohlbe­kannte Schlüssel, darüber konnte kein Zweifel sein. Es war schon früher vorgekommen, daß in den hohlen Schlüsseln sich Brodkrumen, Papierstreifen oder andere Kleinigkeiten ge­sammelt hatten und dadurch den Gebrauch erschwert hatten. Er entfernte dann leicht durch eine Stecknadel die Hindernisse, und schickte sich an, diese Manipulation jetzt zu wiederholen, wo­bei ein kleines zerknittertes, Papierklüpchen im Umfange einer Linse herausfiel. Rabbi Jesaja entfaltete das Kügelchen, das auseinandergelegt, etwa die Größe einer halben Postmarke hatte. Es war mit hebräischer Kurrentschrift beschrieben, die Buchstaben waren aber so klein, daß Rabbi Jesaja sein unge­wöhnlich scharfes Auge auf's äußerste anstrengen mußte, um die kleinen Schriftzeichen zu lesen. Es überlief Rabbi Jesaja heiß und kalt, als es ihm gelang, in der heiligen Sprache die Worte zu entziffern:Gegen dich allein habe ich gefehlt, und was in deinen Augen schlecht ist, gethan, deshalb mögest du durch deinen Spruch mich rechtfertigen, durch dein Urtheil mich frei sprechen."