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Eine ungekannte Welt : Erzählungen aus dem jüdischen Familienleben / von Judäus
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würdiger Weise wie vorhin auf den 61. Psalm, dem sein Trauni gegolten hatte. Heiteren Blickes überflog er die Strophen, ihnen im Geiste seine soeben gefundene Erklärung anpassend. Sie schien auch dem Denker in wachem Zustande zuzusagen. Mehr aber als die Erklärung freute ihn das Be­wußtsein, daß sein inneres Geistesleben nicht von den turbu­lenten Vorgängen der letzten Stunden ergriffen war. Wäre dieses der Fall gewesen, so hätte er von ihnen und nicht vom 61. Psalm geträumt. Deßwegen durchfolg er mit heiterem Lächeln die Verse des Psalms, das aber plötzlich schwand, als er beim Durchlesen auf den 16. Vers stieß;Rette mich vor Blutschuld Gott , Gott, meine Hilfe, dann mag meineZunge Deiner Wohlthat jubeln!"

Das war in präcise Worte gefaßt, die Seelenpein, die ihn verfolgte. Es waren also doch dieGedanken des Tages", wie der talmudische Ausdruck lautet, die seine Seele selbst im Traum beherrschten. Wie hatte er sich selber so schlecht gekannt, und wie leicht war er geneigt, sich für vollendeter zu halten, als er in Wirklichkeit war! Verdrießlich schloß er das heilige Buch und trat in raschen Schritten zu dem verhängnißvollen Schranke hin, in dem der Schlüssel noch steckte. Behutsam öffnete er ihn. Er hätte sich nicht gewundert, wenn er ihn wieder leer gefunden hätte. Aber da stand Alles noch unver­sehrt, wie er es vor wenigen Stunden zu seinem Schrecken ge­troffen hatte. War Alles nur ein wüster Traum? Er nahm eine der Girandolen heraus, und das kalte Silber überzeugte ihn, daß es Wirklichkeit war. Sinnend stand er einige Minuten bor dem offenen Schranke. Wiederum stellte er sich auf einen der Stühle, leuchtete mit dem Lichte durch die ganze Tiefe des Schrankes. Die Handspur in dem obersten, leeren Brett war