19. (9. ordentliche) Versammlung des XV. Vereinsjahres.
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des amtlichen Organs der seit dem 1. d. M. aus dem Verbände des Landkreises Teltow ausgeschiedenen und fortan einen eigenen Stadtkreis bildenden neuen Stadt Deutsch-Wilmersdorf, herausgegeben vom dortigen Magistrat. Diese Nummer enthält den nachfolgenden Aufsatz, den wir mit Erlaubnis des Herrn Verfassers wegen des allgemeinen Interesses hier mitteilen.
Wilmersdorf vor 50 Jahren.
Von Dr. Niebour.
Fünfzig Jahre bedeuteten einst für ruhige, industriearme Städte nicht gar viel, sie änderten kaum den Charakter des Ortes. Der Aufschwung der amerikanischen Städte und der Aufschwung der Berliner Vororte hat uns gelehrt, daß das in der Neuzeit anders geworden ist. In der Zeit des Verkehrs, der Freizügigkeit und des intensiven Erwerbslebens können 50 Jahre einen Ort von Grund auf umgestalten, und ein Blick auf die Karte auf Seite 170, die Wilmersdorf im Jahre 1856 darstellt, zeigt, wie gewaltige Änderungen die letzten 50 Jahre unserer Stadt gebracht haben.
Der Ort bestand noch 1856 im wesentlichen nur aus der Dorfstraße, der jetzigen Wilhelmsaue und der nördlichen Seite der Berlinerstraße. An der Süd- bezw. Nordseite standen Kirche und Schule. Hier wohnten alle Bauern und Kossäten, hier lagen auch die beiden Wirtshäuser. Die Häuser der Wilhelmsaue hatten sämtlich Gärten hinter sich, die mit Kartoffeln, Gemüse, Kirschbäumen und Stachelbeeren bestellt waren. Sie gingen nach Süden bis zum See, nach Norden bis zur Berliner Straße. Die Südseite der Berliner Straße hatte bis vor 50 Jahren noch keine Häuser, und auf der Nordseite erhoben sich nur kleine Kolonisten- und Arbeiterhäuser, überwiegend bewohnt von Familien, denen die Hütung und Wartung der großen Kuh- und Schafherden oblag, welche die Pächter des alten Rittergutes unterhielten. Wilmersdorf ist in dieser Zeit in Berlin berühmt durch seine Schafherden. Die gute Schafmilch wurde viel getrunken und Tausende pilgerten damals durch die sandigen Landstriche, auf denen sich heute Wilmersdorf erhebt, hinaus, um bei Schafmilch und Brot mit Schafkäse in Wilmersdorf fröhliche Stunden zu verleben.
Die Felder südlich vom See bis Steglitz hin, aber auch die Felder iin Norden bis nach Charlottenburg, waren das unbestrittene Eigentum der Herden, keine menschliche Wohnstätte störte sie. Die Felder waren bei der Separation — soweit sie nicht zum Rittergut gehörten — unter die 8 Bauern des Ortes verteilt worden, sie lagen aber sämtlich teilweise brach und haben erat 25 Jahre später dem Besitzer Geld, und zwar recht viel Geld, eingebracht. Neben der Viehzucht wurde auf dem Rittergut auch etwas Körnerbau getrieben, außerdem wurden viele Fische,
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