il. (3. ordentliche) Versammlung des XTX. Vereinsjahres.
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Die Parochialkirclie liat während ihrer über zweihundert Jahre alten Existenz überhaupt mehrere „Einfälle“ gehabt. Kurfürst Friedrich I. legte am 18. August 1695 den Grundstein zu dieser neuen reformierten Kirche, deren Pläne der berühmte Nering entworfen. Als dieser gestorben war, setzte der Hofmauermeister Braun den Bau so ungeschickt fort, daß 1698 das Gewölbe zusammenstürzte. Man stellte nun die eigentliche Kirche bis 1703 notdürftig fertig, aber ohne den Turm, dieser sollte vier Löwen zur äußeren Zierde und innen das treffliche holländische Glockenspiel erhalten, das der inzwischen König gewordene Erbauer eigentlich für den gewaltigen Münzturm am Schloß bestimmt hatte, der nicht ohne Verschulden des berühmten Schlüter jämmerlich in sich zusammenkrachte.
Der Nachfolger König Friedrichs I., der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm T, führte aber das Werk seines Vaters bis 1715 zu Ende, und so kam die Parochialkirclie zu ihrer Singeuhr und zu ihren vier Löwen. Die mythenbildende Kraft des Volks, die bei unseren rationalistischen und nüchternen Spreeathenern von jeher viel größer gewesen ist, als man annehmen möchte, behauptet nun, die vier Löwen hätten früher, wenn die Uhr vollschlug, zu dem Choral des Glockenspiels gebrüllt. Der Magistrat sei sehr stolz auf dieses . Unikum Berlins gewesen und habe deshalb, um zu verhüten, daß der Künstler etwas Aehnliches wo anders schaffe, diesem die Augen ausstechen lassen.
Da hat denn der Meister gebeten, man möge ihn nur noch einmal nach dem Turme führen, und wie er oben gewesen, hat er an einer Schraube gedreht, und seit der Zeit sind die Löwen verstummt und brüllen nicht mehr.
Also berichtet Wilhelm Schwartz, der Altmeister der Sagen und alten Geschichten aus Berlin und der Mark Brandenburg. Als junges Mitglied des Berliner Magistrats hat mich diese arge Anschwärzung meiner Körperschaft verdrossen, und ich habe meinem verewigten Lehrer und Freunde Schwartz gesagt, daß diese Wendung der Sage ja ganz unmöglich sei, da die Stadtobrigkeit Berlins im 18. Jahrhundert schon längst nicht mehr Strafen an Leib und Leben verhängen konnte. Schwartz entgegnete mir, er könne die Sache nicht ändern, denn so wäre nun einmal die Volksüberlieferung; er werde aber in meinem Sinne bei der nächsten Auflage seines Buches eine „aufklärende Anmerkung hinzufügen“. Das hat er denn auch getan. ., ..
Uebrigens kehren ähnliche Sagen in und außerhalb Deutschlands wieder. " r Erinnert, sei nur an die Sage von der großen Kunstuhr in Straßburg im Elsaß.
Die Untersuchung des kürzlich von der Singeuhr heruntergesprungenen Königs der Tiere hat zum Ueberfluß ergeben, daß in dem Bildwerk keinerlei Schallvorrichtung angebracht gewesen ist.