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17. (6. öffentl.) Versammlung des IV. Vereinsjahres.
Es sei hierzu bemerkt, dass Minna Herzlieb in der Familie des mit Goethe befreundeten Buchhändlers Frommann als Pflegekind lebte. Schon in ihrer Kindheit war sie ein rechter Liebling Goethes gewesen; zur Jungfrau herangewachsen, übte sie, wie G. H. Lewes (Goethes Leben und Werke. 16. Aufl. I. 1892 S. 288) sagt, auf ihn einen Zauber, gegen den seine Vernunft sich vergebens sträubte. Der Unterschied der Jahre war gross, aber wie oft schenken junge Mädchen die erste Blüte der Neigung Männern die ihre Väter sein könnten, und wie oft glühen Männer im vorgeschrittenen Alter noch von der Leidenschaft der Jugend! Die Beziehungen Goethes zu ihr haben bekanntlich in seiner Poesie tiefe Spuren hinterlassen. Die Neigung zu dem damals achtzehnjährigen, überaus lieblichen Mädchen und der tägliche Verkehr mit dem sonetten- fertigen Zacharias Werner erstickten hei einem Jenaer Aufenthalt im November und Dezember 1807 den letzten Rest der Aversion, von der er lange Zeit gegen die von den Romantikern aufgebrachte und mit Vorliebe verwendete Form des Sonetts erfüllt war und trieben ihn nach dem eigenen Bekenntnis in eine wahre „Sonettenwut“*). Die siebzehn unter der Rubrik „Sonette“ in seinen Werken vereinigten Gedichte sind bis auf eines oder zwei sämtlich in dieser Zeit entstanden. Wie viele davon Goethes Beziehungen zu Minna Herzlich wiederspiegeln, steht nicht fest. Ganz sicher ist es nur von vieren. Und auch bei diesen ist die Frage, wie viel Erlebtes die Darstellung birgt, nicht leicht zu beantworten. Der Charakter der Dichtform, nicht minder das Vorbild, das Goethe für seine Produkte in den Liedern Petrarka’s vor Augen hatte, die er damals viel las, sind bei der Entscheidung der Frage nicht ausser Acht zu lassen. Zweifellos hatten sie beide eine künstlerische und künstliche Steigerung der Wirklichkeit zur Folge, und man muss sich hüten das in den Gedichten Ausgesprochene ohne Weiteres mit dem real Empfundenen zu identifizieren.
Doch liegt eine in stärkerem Sinne authentische, Aufschluss gebende Äusserung von Goethe selbst vor, die er fünf Jahre nach jener Liebesepisode tlrnt. Am 15. Januar 1813 schreibt er an Zelter, er habe Minna Uerzlieb schon als Kind von acht Jahren (thatsächlich war sie damals zehn) zu lieben angefangen und „in ihrem sechszehnten (also thatsächlich achtzehnten) fährt er fort, liebte ich sie mehr wie billi“.“
Am 29. November 1807 speiste Goethe mit mehreren Jenenser Freunden Mittags bei Frommans. An diesem Tag erwachte, wenn wir einem dichterischen Zeugnis Glauben schenken dürfen, jene über das blosse Wohlgefallen hinausgehende Zuneigung. Das sechszehnte „Epoche“
*) Die folgende Darstellung ist aus der Feder unsers Mitgliedes des u. A. als Goethe-Forscher bekannten Herrn Dr. Otto Pniower.