Heft 
(1.1.2019) 03
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Schon in wenigen Wochen

Besserung

Beziehungsstörungen zwischen Nervensystem

und Muskulatur haben viele Gesichter

Mehr als 75 Prozent der gesamten Kapazität des menschlichen Nervensystems nehmen ausschließlich Informationen auf. Pro Sekunde kann das Nerven­system rein theoretisch 25 Millionen bit in sich spei­chern. Die Antworten auf die im Gehirn verarbeite­ten Informationen können wiederum nur über das Muskelsystem erfolgen. Gibt es in diesem Gefüge jedoch Störungen, kommt es zu Auffälligkeiten. Portal-Redakteurin Petra Görlich sprach darüber mit Prof. Dr. Gernot Badtke und Prof. Dr. Frank Bittmann aus dem Institut für Sportmedizin und Prävention der Uni Potsdam.

Es ist keine neue Erkenntnis, Körper und Geist gehören beim Menschen eng zusammen. Doch nicht in jedem Fall funktioniert die Beziehung so reibungslos. Können von diesen Problemen eigentlich alle betroffen sein?

Badtke: Ja. In jeder Phase der Entwicklung kann eine solche Störung auftreten. Schon ein relativ leichter Auffahrunfall führt möglicherweise zu einer plötzlichen Beeinträchtigung des ansonsten funktionierenden Miteinanders von Nervensys­tem und Muskulatur. Bittmann: Das die Muskulatur steuernde Nerven­system ist dabei auf Signale der Rezeptoren von Muskeln und Gelenken angewiesen. Sind diese zum Beispiel bedingt durch die plötzliche Beschleunigung beim Unfall nicht mehr kor­rekt, kommt es zuRechenfehlern in der Zen­trale: Die Muskeln können gehemmt oder über Gebühr aktiviert werden. Dies führt zu Störun­gen des Gelenks und kann langfristig Schäden { verursachen. Mit dieser biokybernetischen Be­trachtungsweise lassen sich jetzt auch Sport­schäden und zungsmechanismen ' erklären, die bis heute eigentlich ein Rätsel auch in der Sportmedi­zin waren.

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Prof. Dr. Gernot Badtke untersucht in seinem Institut Kleinstkinder mit dem so genannten KISS-Syndrom.

Sie beschäftigen sich in Ihrem Uni-Institut ins­besondere mit Kindern, die Probleme aufweisen?

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DD. Bei der Geburt können sich Gelenke verschieben. Wird dies rechtzeitig erkannt, gibt es sehr gute Heilungschancen.

Badtke: Ja. Wir widmen uns hier zum Beispiel dem so genannten KISS-Syndrom. KISS heißt Kopfgelenkinduzierte Symmetriestörungen und wurde als Störungsbild erst in jüngerer Zeit erkannt und definiert. Diese Fehlfunktion tritt meist schon während der Geburt auf. Die Platten des Schädels, aber auch die Wirbel sind beim Baby zu diesem Zeitpunkt noch sehr weich und höchst verschieblich zueinander. Der Druck auf den Kopf des Babys kann zu den Verschiebungen der Gelenke führen. Meistens bilden sich diese spontan zurück, aber nicht immer. Dann bleiben mitunter gestörte Kopfgelenke oder eben ein beeinträchtigter Halte-und Bewegungsapparat bestehen. Schreikinder, Schiefhaltungen des Kop­fes, Berührungsempfindlichkeit, Schluckstörun­gen, Gleichgewichtsprobleme oder Schlafstörun­gen können die Folge sein.

Für viele Mütter bedeuten die Beschwerden ihrer Kinder einen langen Weg durch die Arztpra­xen. Welche Hoffnungen können sie ihnen machen?

Badtke: Handelt es sich um bloße Funktionsstö­rungen der Kopfgelenke oder zum Beispiel des

Forschung www.uni-potsdam.de/portal /apro2/forschung

Beckens, kann das schon in wenigen Wochen vollständig behoben werden. Die Kinder schreien nicht mehr, sind ruhiger, essen und trinken wie­der besser. Anders sieht es aus, wenn bereits morphologische Veränderungen eingetreten sind, also Veränderungen, die man sehen oder anfassen kann.

Sie haben gerade eine Untersuchung bei Schü­lern Brandenburgs durchgeführt, die eine Lese­und Rechtschreibschwäche besitzen. Inwieweit ließ sich hier tatsächlich der Zusammenhang von Nervensystem und Muskulatur nachweisen?

Bittmann: Es handelt sich um eine für branden­burgische Viertklässer repräsentative Studie mit circa 800 Kindern in Kooperation mit dem Minis­terium für Bildung, Jugend und Sport. Teile der Ergebnisse werden zur Zeit zusammen mit Prof. Dr. Jürgen Kurths und Dr. Niels Wessel von der Arbeitsgruppe Nichtlineare Dynamik ausgewer­tet. Es zeichnet sich ein enger Zusammenhang zwischen Schulerfolg und koordinativen Leistun­gen, wie etwa der körperlichen Balance, ab. Wir gehen davon aus, dass beide Qualitäten Ausdruck der Leistungsfähigkeit des Nervensystems sind. Sollten sich diese Zusammenhänge bestätigen, eröffnen sich nun neue Aspekte sowohl für die Diagnostik von Entwick­lungsproblemen als auch für die Kognitionsförde­rung über koordinatives Üben. Wir bereiten des­halb gerade ein Kita­Erprobungsprojekt vor.

Sie haben sich gerade auf einer Arbeitstagung mit dem Phänomen dieser

Prof. Dr. Frank Bitt­

Beziehungsstörungen

beschäftigt? mann will mit einer Untersuchung den

Badtke: Ja, am 6. April Zusammenhang zwi­

fand die jährliche Ar­beitstagung des Instituts für Sportmedizin und

schen Schulerfolg und körperlicher Balance nachweisen.

Prävention der Uni, des

Landesverbandes Brandenburg der Gesellschaft für Sportmedizin e.V. und des Brandenburgi­schen Vereins für Gesundheitsförderung e.V. statt. Sie richtete sich an Ärzte, Physio- und Sport­therapeuten sowie Sportwissenschaftler, Studen­ten und interessierte Mitarbeiter. Wir haben die Aufmerksamkeit gerade auf dieses Problem gelenkt, weil es zuweilen Schwierigkeiten bei der Diagnostik und auch im therapeutischen Ansatz gibt.

Vielen Dank für das Gespräch.

Portal 3-4/02