Schon in wenigen Wochen
Besserung
Beziehungsstörungen zwischen Nervensystem
und Muskulatur haben viele Gesichter
Mehr als 75 Prozent der gesamten Kapazität des menschlichen Nervensystems nehmen ausschließlich Informationen auf. Pro Sekunde kann das Nervensystem rein theoretisch 25 Millionen bit in sich speichern. Die Antworten auf die im Gehirn verarbeiteten Informationen können wiederum nur über das Muskelsystem erfolgen. Gibt es in diesem Gefüge jedoch Störungen, kommt es zu Auffälligkeiten. Portal-Redakteurin Petra Görlich sprach darüber mit Prof. Dr. Gernot Badtke und Prof. Dr. Frank Bittmann aus dem Institut für Sportmedizin und Prävention der Uni Potsdam.
Es ist keine neue Erkenntnis, Körper und Geist gehören beim Menschen eng zusammen. Doch nicht in jedem Fall funktioniert die Beziehung so reibungslos. Können von diesen Problemen eigentlich alle betroffen sein?
Badtke: Ja. In jeder Phase der Entwicklung kann eine solche Störung auftreten. Schon ein relativ leichter Auffahrunfall führt möglicherweise zu einer plötzlichen Beeinträchtigung des ansonsten funktionierenden Miteinanders von Nervensystem und Muskulatur. Bittmann: Das die Muskulatur steuernde Nervensystem ist dabei auf Signale der Rezeptoren von Muskeln und Gelenken angewiesen. Sind diese— zum Beispiel bedingt durch die plötzliche Beschleunigung beim Unfall— nicht mehr korrekt, kommt es zu„Rechenfehlern“ in der Zentrale: Die Muskeln können gehemmt oder über Gebühr aktiviert werden. Dies führt zu Störungen des Gelenks und kann langfristig Schäden { verursachen. Mit dieser biokybernetischen Betrachtungsweise lassen sich jetzt auch Sportschäden und zungsmechanismen ' erklären, die bis heute eigentlich ein Rätsel auch in der Sportmedizin waren.
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Prof. Dr. Gernot Badtke untersucht in seinem Institut Kleinstkinder mit dem so genannten KISS-Syndrom.
Sie beschäftigen sich in Ihrem Uni-Institut insbesondere mit Kindern, die Probleme aufweisen?
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DD. Bei der Geburt können sich Gelenke verschieben. Wird dies rechtzeitig erkannt, gibt es sehr gute Heilungschancen.
Badtke: Ja. Wir widmen uns hier zum Beispiel dem so genannten KISS-Syndrom. KISS heißt „Kopfgelenkinduzierte Symmetriestörungen“ und wurde als Störungsbild erst in jüngerer Zeit erkannt und definiert. Diese Fehlfunktion tritt meist schon während der Geburt auf. Die Platten des Schädels, aber auch die Wirbel sind beim Baby zu diesem Zeitpunkt noch sehr weich und höchst verschieblich zueinander. Der Druck auf den Kopf des Babys kann zu den Verschiebungen der Gelenke führen. Meistens bilden sich diese spontan zurück, aber nicht immer. Dann bleiben mitunter gestörte Kopfgelenke oder eben ein beeinträchtigter Halte-und Bewegungsapparat bestehen. Schreikinder, Schiefhaltungen des Kopfes, Berührungsempfindlichkeit, Schluckstörungen, Gleichgewichtsprobleme oder Schlafstörungen können die Folge sein.
Für viele Mütter bedeuten die Beschwerden ihrer Kinder einen langen Weg durch die Arztpraxen. Welche Hoffnungen können sie ihnen machen?
Badtke: Handelt es sich um bloße Funktionsstörungen der Kopfgelenke oder zum Beispiel des
Forschung www.uni-potsdam.de/portal /apro2/forschung
Beckens, kann das schon in wenigen Wochen vollständig behoben werden. Die Kinder schreien nicht mehr, sind ruhiger, essen und trinken wieder besser. Anders sieht es aus, wenn bereits morphologische Veränderungen eingetreten sind, also Veränderungen, die man sehen oder anfassen kann.
Sie haben gerade eine Untersuchung bei Schülern Brandenburgs durchgeführt, die eine Leseund Rechtschreibschwäche besitzen. Inwieweit ließ sich hier tatsächlich der Zusammenhang von Nervensystem und Muskulatur nachweisen?
Bittmann: Es handelt sich um eine für brandenburgische Viertklässer repräsentative Studie mit circa 800 Kindern in Kooperation mit dem Ministerium für Bildung, Jugend und Sport. Teile der Ergebnisse werden zur Zeit zusammen mit Prof. Dr. Jürgen Kurths und Dr. Niels Wessel von der Arbeitsgruppe Nichtlineare Dynamik ausgewertet. Es zeichnet sich ein enger Zusammenhang zwischen Schulerfolg und koordinativen Leistungen, wie etwa der körperlichen Balance, ab. Wir gehen davon aus, dass beide Qualitäten Ausdruck der Leistungsfähigkeit des Nervensystems sind. Sollten sich diese Zusammenhänge bestätigen, eröffnen sich nun neue Aspekte sowohl für die Diagnostik von Entwicklungsproblemen als auch für die Kognitionsförderung über koordinatives Üben. Wir bereiten deshalb gerade ein KitaErprobungsprojekt vor.
Sie haben sich gerade auf einer Arbeitstagung mit dem Phänomen dieser
Prof. Dr. Frank Bitt
Beziehungsstörungen
beschäftigt? mann will mit einer Untersuchung den
Badtke: Ja, am 6. April Zusammenhang zwi
fand die jährliche Arbeitstagung des Instituts für Sportmedizin und
schen Schulerfolg und körperlicher Balance nachweisen.
Prävention der Uni, des
Landesverbandes Brandenburg der Gesellschaft für Sportmedizin e.V. und des Brandenburgischen Vereins für Gesundheitsförderung e.V. statt. Sie richtete sich an Ärzte, Physio- und Sporttherapeuten sowie Sportwissenschaftler, Studenten und interessierte Mitarbeiter. Wir haben die Aufmerksamkeit gerade auf dieses Problem gelenkt, weil es zuweilen Schwierigkeiten bei der Diagnostik und auch im therapeutischen Ansatz gibt.
Vielen Dank für das Gespräch.
Portal 3-4/02