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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Die Traumerfahrung der Blinden

Von Franz Strunz

Diese Arbeit sichtet die Literatur zu dem Traumerleben der Blinden, schildert die Beteiligung der verschiedenen Sinnesmodi am Trauminhalt und geht auf die dynami­schen Aspekte der Erblindung, wie sie sich im Traum reflektieren, ein. Die Stellung des Blindentraums in der physiologischen Traumforschung und der aus inhalts­analytischen Studien ermittelte Trauminhalt wird in seinen Abweichungen von den Träumen der Sehenden dargestellt. Der Einfluß vergleichbarer Behinderungen auf das Traumleben der Betroffenen zeigt ähnliche Me­chanismen der Traumbildung. Träumen ist inhaltlich neukombinatorisch und nicht lediglich reproduktiv.

This article reviews the literature on the dreaming of the blind, describes the participation of the different senses in dream content and elaborates on dynamic aspects mirroring the condition of blindness. The posi­tion of the blinds dreaming within physiological oniric science is exposed as are the results put forth by content analytic studies with respect to the differences of blind and sighted dreaming. The influence of comparable physical handicap on dreaming is shown by similar me­chanisms of dream formation in those cases. Dreaming is creative, recombinatory, not merely reproductive, mentation.

Thematische Zielsetzung

Seit jeher wurden Verhaltensweisen der Blinden von den Sehenden als unver­traut und fremd empfunden. Scheuheit überkommt den Sehenden angesichts der tastenden Fortbewegungsweise und des aufwärts gewandten Gesichts des Blinden, das in die Ferne, nicht zu se­hen, sondern zu schauen scheint und an­scheinend Welten wahrzunehmen ver­mag, die dem Sehenden verschlossen bleiben.

Dieses von Kirtley(1975, S. 191)Tire­sias-Archetyp genannte Projektionsbild einer idealisierten Seinsweise des Blin­den fand seine Übertragung auch auf ihr Traumleben. In ihren Träumen vermö­gen Tiere zu sprechen und die Blinden vernehmen träumend wunderbare Har­monien. Ihre Träume sind parapsycho­logischen Präkognitionen ähnlich. Der Blinde kommuniziert mit Göttern und Jenseits. In Notlagen wird der blinde Seher Tiresias ob seiner Weisheit aus mantischer Begabung um Rat gefragt, so von Ödipus. Der blinde Dichter Homer wird zum vates(= Seher), der die Inspi­ration für seine Dichtung direkt aus dem Götterhimmel erschaut.

Ein Blindenarzt, der täglich Umgang mit Blinden einer Anstalt pflegte, kann die Feststellung treffen:Ihre Träume ha­ben häufiger das Gepräge des Idealen als die der Sehenden(Wimmer 1869, S. 8). Ferner:In Momenten erhöhter Stim­mung und religiöser Begeisterung leuch­tet dem Blinden im Traume die ideale Wahrheit von der Unsterblichkeit des Geistes, zunächst von Christus auf (S.9).

Selbst neuere Erforscher des Traumle­bens der Blinden erliegen, neben vielen objektiven und wertvollen Beobachtun­gen, dem erwähnten Archetypus oder, banaler gesagt, Stereotyp:In seinen Träumen wird der Blinde viel mehr als der Sehende an die eschatologischen Di­mensionen des Lebens herangeführt, besonders weil die visuelle Isolierung ihn die schützende Umhegung Gottes intensiver spüren läßt. Nicht selten tritt in den Träumen der Blinden ein Geist auf, der die wissende Wahrheit vermit­telt(von Schumann 1956, S. 264). Nicht zu bestreiten ist, daß parapsycho­logische oder religiöse Träume bei ein­zelnen damit begabten blinden Indivi­duen genauso vorkommen können wie auch bei Sehenden. Anzuzweifeln ist le­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIII, Heft 2, 1987

diglich, daß das die übliche Traumerfah­rung der Erblindeten sei. Aus den ge­schilderten Fehlinterpretationen heraus hat dieser Bericht sich das Ziel gesetzt, die Publikationen zum Traumleben der Blinden zu sichten und die Charakte­ristika der Blindenträume im Vergleich zur Traumwelt der Sehenden heraus­zuarbeiten.

Die Beteiligung der Sinnes­modi am Traumleben der Blinden

In der ersten Periode der Forschung zu Blindenträumen(ca. bis zum 2. Welt­krieg) stand die Frage nach der Beteili­gung der dem Blinden verbliebenen Sin­ne am Trauminhalt im Vordergrund. Hierzu liegen seit der unüberholten em­pirischen Pionierarbeit von Heermann (1838), die 6 Jahre nach Goethes Tod veröffentlicht wurde, einhellige Ergeb­nisse vor.

Heermann(1838) untersuchte 101 Fälle von Blindgeborenen und zu verschiede­nen Zeitpunkten ihres Lebens Erblinde­ten und befragte sie nach Träumen. Aus

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