seinem Traummaterial und dessen Vergleichung mit dem Zeitpunkt des Erblindens ergab sich eine Reihe von Gesetzmäßigkeiten zur Beteiligung der Sinnesmodi am nächtlichen Träumen. Träume von Geburtsblinden enthalten keine Gesichtsvorstellungen. Ihre Träume verlaufen in den übrigen Sinnen. Das Gehör überwiegt im Geträumten. Es folgen in abnehmender Reihenfolge Tastvorstellungen und kinästhetische Gehalte. Geruch und Geschmack sind im Traum selten, kommen aber durchaus vor.
Erfolgt spätere Erblindung noch vor dem 5. Lebensjahr, so sind die Träume der davon Betroffenen von den sinnlichen Vorstellungen her mit denen der Blindgeborenen identisch. Visuelle Bilder kommen dann zu keinem späteren Zeitpunkt im Traum mehr vor. Zwischen dem 5. und 7. Lebensjahr ist offenbar die kritische Phase für die Reifung des visuellen Vorstellungsvermögens, das sich in der Erinnerung an optische Bilder manifestiert. Erblindung während dieser kritischen Phase kann die Erhaltung späterer onirischer Bildresiduen zum Gefolge haben, aber nicht notwendig. Erblindung nach dem 7. Jahr äußert sich regelhaft im Auftauchen visueller Imagination im Traumleben der Betroffenen.
Sehenkönnen im Traum kann lange nach dem Erblinden so frisch und lebhaft wie in der Zeit des intakten Sehvermögens sein. Zehn Jahre nach der Erblindung sind visuelle Bilder im allgemeinen noch von ungeminderter Qualität. Von seinen Träumen allein her hatte der ungemein traumerfahrene Hall (Kirtley& Hall 1975) einen seit 18 Jahren Erblindeten nicht als solchen erkannt. Heermann(1838) führt zwei Beispiele an, in denen Personen noch 52 und 54 Jahre nach ihrer Erblindung visuell träumten. Freilich herrscht hier bezüglich des Aufhörens geträumter visueller Bilder starke inter-individuelle Variabilität vor. Insgesamt vollzieht sich mit der Länge des Erblindungszeitraums eine graduelle Verundeutlichung onirischer Visualisierung, die dann irgendwann zu deren Verschwinden führt.
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Franz Strunz: Die Traumerfahrung der Blinden
Diese Resultate, die in der Folge immer wieder repliziert wurden(Jastrow 1888, Buttenwieser-Kauffmann 1927, Villey 1930b, Bolli 1932, Blank 1958a, von Schumann 1959), erfuhren lediglich einige Diffenzierungen. Bei der Abschwächung der Erinnerung an Gesehens verschwimmen zunächst die Formumrisse im Traum und erst später folgen die Farben, von denen die lebhafteren und grellen zuletzt verschwinden(Villey 1930b). Allmählich vermindert sich auch die Anzahl der Bildvorstellungen, die eine immer grauere Tönung annehmen. Das gleiche gilt für die visuellen Vorstellungen im Tagtraum.
Es erstaunte immer wieder der Gebrauch von Farbepitheta bei kongenital Blinden(Jastrow 1888, Keller 1908, Kerr et al. 1982), die nie visuell, geschweige farblich wahrgenommen haben. Jastrow (1888) hält dieses Phänomen für puren Verbalismus. Wenn diese Interpretation einerseits sicher richtig ist, da die entsprechende sinnliche Erfahrung fehlt, sind derartige Assoziationen, den Gesprächen Sehender entnommen, insofern zu verstehen als durch die mit der Blindheit einhergehende Schärfung der verbleibenden Sinne nicht nur die bloß verbale Assoziation eines Farbadjektivs und Substantivs(blau— Himmel, grün— Wiese) aufgenommen wird, sondern auch die mit der Farblichkeit verbundene und ihr von den Sehenden unterlegte Gefühlstönung. So kann Helen Keller (1908)„farbliche” Träume berichten, die einem Außenstehenden nie den Gedanken nahelegen würden, die Träumerin sei von Geburt blind.
Anderseits werden in Träumen Erblindeter häufig visuelle Assoziationen berichtet, die sich von anderen Sinnesmodalitäten her einstellen können(Jastrow 1888, Wheeler 1920). Wie die Sehenden sich auf Grund auditiv vernommener Schilderungen anderer Personen visuelle Verstellungen von ihnen bilden, die von der Wirklichkeit in der Regel weit entfernt sind, so„sehen” Erblindete ihre Gesprächspartner oder ziehen Schlüsse über ihr Äußeres aus anderen Sinneswahrnehmungen(z. B. Rasseln einer Uhrkette: wohlhabender, beleibter
Mann). Aus Vorstellungsschemata ihrer visuell intakten Zeit werden Ereignisse und Personen ad hoc visualisiert(Jarisch 1870, Buttenwieser-Kauffmann 1927). Aus altem Baumaterial wird Neues kombiniert(Lenk 1922) und zu„Surrogatvorstellungen”(Hitschmann 1894, S. 388) verdichtet, die dem Blinden die Orientierung erleichtern.
Im Traum tummeln sich diese Vorstellungen Erblindeter als visuelle Realität, der der Blinde als sehintaktes Mitglied angehört. Freilich werden viele Fälle berichtet, in denen der Träumer klartraumähnlich(Tholey 1984) zugleich blind und sehend ist. Er braucht einen Führer, obwohl er alles vor sich sieht(Villey 1930b). Er ertastet den Randstein der Straße, der sichtbar vor seinen Augen liegt(Wanecek 1955).
„Synthetische Vorstellungen”(Villey 1930a, S. 391) dieser Art verschmelzen in den Träumen Erblindeter zu synästhetischen und cönästhetischen Wahrnehmungsformen. Töne und Farben vermischen sich zum Farbenhören(Bolli 1932, von Schumann 1955a). Natürlich erschafft sich auch der Blinde im Traum keine vollständig neue Welt, vor allem keine neuen Sehvorstellungen außer denen, die ihm aus der sinnintakten Zeit überkommen sind. Nihil in intellectu, quod non ante fuerit in sensu. Übrigens kann auch der Sehende nichts anderes (Bergson 1901). Der Blinde aber kombiniert seine ihm verbliebenen Möglichkeiten sinnlicher Repräsentation zu reichhaltigen, bisweilen bizarren, Traumbildern.
Dabei besteht für den sehenden Partner der Traumberichtssituation durchaus zuweilen die Schwierigkeit der Unterscheidung, ob der Blinde den Trauminhalt wirklich gesehen hat oder ihn lediglich, als an die Welt der Sehenden angeglichenen Verbalismus, für gesehen ausgibt. Nach der Beobachtung von Bolli (1932) verwenden Blinde häufig das Verb„sehen” im Sinn von„berühren” oder„hören”. Genaues Nachfragen und Insistieren auf der Qualität des Gesehenen ist in der Regel klärend(Kerr et al. 1982). Genauso wie der Blinde im Wachleben die verbliebenen Sinne zu seiner
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIII, Heft 2, 1987