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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Franz Strunz: Die Traumerfahrung der Blinden

Orientierung besonders koordiniert und deren Möglichkeiten voller ausschöpft, so daß erst Sinnesverknüpfung, die der Sehende vernachlässigt, ihm leidlich gu­tes zielgerichtetes Verhalten ermögli­chen, so sind Modusüberlagerungen im Traum, mit der dort üblichen Überdeut­lichkeit und Übertreibung, nichts Selte­nes oder Außergewöhnliches.

Psychophysiologie der Blin­denträume

Mit dem Beginn der neueren, physiolo­gisch orientierten Traumforschung, die einen Zusammenhang zwischen den ra­schen Augenbewegungen während der REM-Periode des Schlafs und lebhaften Träumen fand(Aserinsky& Kleitman 1953), schien endlich das langgesuchte organische Substrat für den Traum ge­funden zu sein. Die raschen Augenbe­wegungen verfolgen, so wurde ange­nommen, im Traum vorbeiziehende vi­suelle Bilder. Einige frappierende und überzeugende Beispiele solch linearer Parallelität wurden berichtet(Dement& Kleitman 1957, Bussel et al. 1972). Wei­tere Replikationsversuche dazu waren in ihren Ergebnissen aber nicht mehr von solcher Eindeutigkeit oder fanden kei­nerlei Zusammenhang von Augenbewe­gungen und Traumbildern(Moskowitz & Berger 1969).

Einige an der Frage dieses psychophy­siologischen Parallelismus interessierte Forscher argumentierten, daß kongeni­tal Blinde, sollte diese Abtast- oder Scan­ning-Hypothese des okulären Traum­bildverfolgens richtig sein, keinerlei Au­genbewegungen im REM-Schlaf aufwei­sen sollten, da ihnen visuelle Träume gänzlich fehlen. Das wurde von Berger et al.(1962) an Geburtsblinden auch be­stätigt, wohingegen sie Augenbewegun­gen(REM) an später Erblindeten dur­chaus beobachteten. Freilich wurden später auch erstmals an einem kongeni­tal Blinden Augenbewegungen nachge­wiesen(Offenkrantz& Wolpert 1963) und in darauffolgenden Arbeiten regel­mäßig gefunden(Gross et al. 1965, Ama­deo& Gomez 1966, Kerr et al. 1982).

Die Scanning-Hypothese des Verfolgens von Traumbildern durch die rollenden Augäpfel war damit widerlegt, wenn auch nicht zur Gänze. Ein schwacher Zusammenhang bleibt bestehen (Schwartz et al. 1978). In unbekannter Weise interagieren Augenbewegungen zumindest partiell mit der Intensitätsdi­mension der Traumbilder, was unter an­derem darin seinen Ausdruck findet, daß die REMSs von Geburtsblinden im allge­meinen schwächer, von kleinerer Ampli­tude und fast ausschließlich monodirek­tional orientiert sind.

Psychodynamische Aspekte

Liest man die Arbeiten zum Träumen der Blinden, die vor und nach Freuds Traumdeutung, bis ca. 1940, entstanden, fällt ein Mangel auf, der von heutigem Traumwissen aus unverständlich er­scheint, nämlich das Fehlen jeder dem Traum eventuell zu entnehmenden In­formation zum Innenleben der Blinden, über das, alsVia regia zur Kenntnis des Unbewußten(Freud 1900, S. 613), Auf­schluß zu geben gerade der Traum als in hohem Grad befähigt eingeschätzt wird. Die frühe, unzugängliche Magisterarbeit von McCartney aus dem Jahre 1913 (Blank 1958a, b) scheint hierbei eine Ausnahme zu sein. Der selber blinde McCartney fand in Blindenträumen we­nig Unterschiede zu den Träumen der Sehenden, mit Ausnahme des zahlrei­chen Vorkommens von Flug- und Fall­träumen, das auch von anderen Autoren festgestellt wird(von Schumann 1959). Bewegungsträume scheinen manchen Autoren vermehrt bei Blinden vorzu­kommen(Buttenwieser-Kauffmann 1927, Bürklen 1927) und werden damit erklärt, daß Blinde, auf Grund der moto­rischen Dauereinschränkung, mit der sie sich abzufinden haben, zu kompensato­rischem Bewegungsdrang im Traum nei­gen(von Schumann 1955a, c). Ein Er­gebnis von Othmer(1967), der fand, daß größere motorische Aktivität mit gerin­gerer und geringe Aktivität mit um­fangreicherer Tag- und Nachtphantasie

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIII, Heft 2, 1987

korreliert, könnte dazu den Erklärungs­rahmen bereitstellen.

Damit gleichermaßen vereinbar wäre die häufig festgestellte größere Bedeu­tung des Emotionalen im Phantasiele­ben der Blinden und besonders in ihrem Traumleben(Wimmer 1869). Einge­schränkte Bewegungsmöglichkeiten ver­weisen das betroffene Individuum auf innere Ressourcen zurück, aus denen es Kraft suchen und schöpfen kann. Nicht ohne Grund ist für Blinde das Traumle­ben von besonderem Interesse(Wim­mer 1869, Villey 1930b) und Träume sind für sie vielleicht ein größeres Erleb­nis als für die durch visuelle Eindrücke stets davon abgelenkten Sehenden(von Schumann 1955a). In ihnen kommuni­zieren Erblindete mit der Welt der Se­henden und sie sind das Tor und die Brücke zu ihnen(Wimmer 1869, Huber 1940). Von Schumann bescheinigt den Blindenträumen, die er kennenlernte er behandelte Blinde psychotherapeu­tisch,vertiefte geistige Schau(von Schumann 1955a, S. 207), fand die Traumtätigkeit Blinder schöpferischer und eineTiefung der Persönlichkeit (von Schumann 1955c, S. 69) befördern­der als die der Sehenden.

Freilich wird nach der Beobachtung mehrerer Autoren, nimmt erst die Emo­tionalität den Vordergrund der Traum­tätigkeit ein, die Angst zum zentralen Thema(Kimmins 1931, von Schumann 1955b), erklärbar aus den zahlreichen Überraschungen, denen der Träumer von Seiten anderer Menschen oder Tie­re ausgesetzt ist, ohne sie rechtzeitig wahrnehmen zu können. Wanecek (1955) bemerkt in Träumen der Blinden die Tragik ihrer beraubten Existenz, die im Alltag übertüncht wird. Jastrow (1888) findet die Träume Blinder trauri­ger als die der Sehenden. Da dem Traumsubjekt die aktive Teilnahme an der Traumhandlung wegen seiner Be­hinderung versagt bleibt, ist er in der Re­gel nur passiver Betrachter des Gesche­hens(Hitschmann 1894, von Schumann 1955b).

Angst erzeugt Konflikte und ist anderer­seits hinwiederum von zugrundeliegen­den Konflikten erzeugt. Blinde fühlen

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