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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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sich innerlich lebendig wie Sehende und sind doch von letzteren abhängig. Ihre geträumte Aggressivität ist hoch(von Schumann 1955a). Das wiederum erklärt die Vielzahl reaktiv zu verstehender Schuldgefühle in ihren Träumen(Blank 1958a). Da eine Lösung dieses Problems unmöglich ist, ist diese Konstellation ein dauernd die onirische Aktivität prägen­der, virulenter Tagesrest. Kastrations­themen(Blank 1958a), Träume mit feh­lendemEigenmachtgefühl, Themen derpsychophysischen Lebensbedro­hung unddes Verlusts der vitalen Energie(von Schumann 1955b, S. 634) herrschen vor. Alpträume sind häufig und Sehende verfolgen den Blinden mit ihren Blicken(von Schumann 1955a). Freilich gibt es von anderen Autoren Schilderungen, die nicht derart alp­traumhaft ausfallen. Cason(1935) fand die Alptraumfrequenz seiner Blinden nicht erhöht. Helen Keller(1908) berich­tet von vorwiegend beglückenden Träu­men. Wunscherfüllungsträume werden Blinden durchaus in hoher Frequenz zu­teil(Blank 19583).

Ist die Welt der Blinden, wenn man Trauminhalte als Barometer der geleb­ten Welt betrachtet, eine Welt trostloser Finsternis? Gewiß ist sie das in der schwierigen Gewöhnungsphase an die Behinderung. Ein Blinder(Hitschmann 1894) berichtet indes, daß sich nach der ersten Verzweiflung eine Art Zufrieden­heit mit seinem Zustand einstellen kann, die durchaus nicht befindensbeeinträch­tigender zu sein braucht als die der Se­henden, die einem hohen Maß an Le­bensstreß in der Regel gleichfalls ausge­setzt sind. Für Glück scheint eine Ober­grenze genauso zu existieren, wie ge­wöhnlich nicht überschritten wird, sie für Leid eine Untergrenze. Die Träume der Sehenden enthalten zu ca. 60% ne­gative Emotionen(Hall& Van de Castle 1966) und scheinen nicht frohgemuter zu sein als die der Blinden.Es fehlt ihm (= dem Blinden) unter normalen Ver­hältnissen durchaus an jener schmerzli­chen Sehnsucht nach dem Lichte, wel­che sich der Vollsinnige so poetisch aus­zumalen pflegt(Hitschmann 1894, S. 391).

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Franz Strunz: Die Traumerfahrung der Blinden

Lediglich drei Arbeiten geben uns über die mitgeteilten Träume einzelner Indi­viduen, die sich in Therapie befanden, Einblick in die konkrete emotionale Le­benssituation der Betreffenden(Kiel­holz 1941, Laiblin 1949, Kirtley& Hall 1975). So schwierig ihre Lage ist, nie ver­mitteln die Träume oder die Interpreta­tion der Autoren den Eindruck, als sei ih­re Erblindung die unmittelbare Ursache ihrer Lebensschwierigkeiten. Wenn die Blindheit auch vielfach in das wirkliche und geträumte Leben der Betroffenen hineinspielt, so sind etwa Kirtley& Hall (1975) überzeugt, daß die Persönlichkeit der von ihnen analysierten Person, wäre sie sehend geblieben, keine sehr ver­schiedene Entwicklung genommen hät­te. So sehr bestimmten affektive biogra­phische Ereignisse ihre Geschichte und die gewordene spezifische innere Kon­stitution.

Inhaltsanalytische Studien

Die im vorausgehenden von verschiede­nen Autoren als Charakteristika der Blindenträume hervorgehobenen dyna­mischen Aspekte haben den Nachteil, aus impressionistischen Beobachtungen weniger Probanden enstanden zu sein, teilen also insgesamt als Aussagen über das Traumleben der Blinden geringe Re­liabilität. Die in den Nachkriegsjahren entstandene Methodik der Traumin­haltsanalyse stellt die bis dahin gemachten Aussagen zu Blindenträu­men auf konkrete, verläßlichere und vor allem verifizierbare Füße und erlaubt damit zugleich eine Überprüfung des Richtigkeitsgehalts und der Generali­sierbarkeit der Beobachtungen ihrer Vorgänger.

1966 legten Hall und Van de Castle ihr epochemachendes Werk zur Inhaltsana­lyse der Träume von 500 normalen Män­nern und 500 normalen Frauen vor. Aus einem umfangreichen Kategorialsystem zu allen Aspekten vorkommenden Trauminhalts(Emotionen, Affekte, In­teraktionen, Glück/Unglück, Umge­bung, Traumpersonen u. a.) ermittelten sie für ihre 1000 Probanden die mittleren

Vorkommenshäufigkeiten über alle Ka­tegorien und schufen damit ein Ver­gleichsinstrument, an dem der Traumin­halt von normalen Einzelpersonen oder Personen unter besonderen Bedingun­gen(Psychotiker, Neurotiker, Behinder­te) gemessen werden kann. Abweichun­gen von den Traumnormen in bestimm­ten Kategorien werden in diesem Raster herausgefiltert und erlauben diagnosti­sche und gegebenenfalls therapeutische Interventionsschritte.

Kirtley und seine Mitarbeiter bedienten sich dieses Instruments seit 1973 zur Er­mittlung des durchschnittlichen Trauminhalts der Blinden und Erblindeten. Da in eher intuitiven oder klinischen Studien der Trauminhalt von Blinden als zum Teil erheblich von dem der Sehenden unterschieden beschrie­ben wurde(Kimmins 1931, von Schu­mann 1955c, Singer& Streiner 1966), war eine empirische Überprüfung dieser teils vom Tiresias-Archetyp eingefärb­ten Aussagen besonders einsichtsträch­tig, vor allem auch deshalb, weil andere Arbeiten wiederum keine wesentlichen Unterschiede zu den Träumen der Se­henden gefunden hatten(Buttenwieser­Kauffmann 1927, Bolli 1932, Blank 1958a, b, Kerr et al. 1982).

In 7 Kategorialbereichen stellten Kirtley & Cannistraci(1973) Unterschiede zu den Träumen der Sehenden fest:

1. Die eingeschränkte Mobilität der Blin­den fand ihren Traumausdruck in einer geringeren Anzahl von Szenerien im Freien und einer größeren Frequenz von Hausgebrauchsgegenständen als bei den Sehenden. Dies stand der Beobach­tung von von Schumann(1959) entge­gen, der gerade in diesem Bereich kom­pensatorisch erhöhte Bewegungsquanti­tät in Blindenträumen ausgemacht hat­te.

2. Derselbe Autor hatte auch die ge­träumte Aggressivität, verglichen mit der Sehender, auf Grund der geringen Abfuhrmöglichkeit dafür, bei den Blin­den als kompensatorisch wesentlich er­höht gefunden. Kirtley& Cannistraci (1973) fanden sie erniedrigt und nur in sehr seltenen Fällen von extrem gewalt­tätiger Natur. Jedoch war die Traumka­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIII, Heft 2, 1987